Léon und Louise: Roman (German Edition)
die sie schon am Tag zuvor gesehen hatten; sie tranken Wasser am selben Dorfbrunnen und kauften Brot in derselben Bäckerei. Ihre Fahrräder surrten zuverlässig, und bald zeigte sich auch wieder die Sonne – alles war genau wie am Tag zuvor, und doch war jetzt ein Zauber in alles gefahren. Der Himmel war weiter, die Luft war frischer, die Zukunft strahlend, und es schien Léon, als sei er zum ersten Mal im Leben richtig wach, als sei er müde zur Welt gekommen und hätte sich sein ganzes bisheriges Leben müde von Tag zu Tag geschleppt bis zu ebendiesem Wochenende, an dem er nun endlich aufgewacht war. Es gab ein Leben vor Le Tréport und eines nach Le Tréport.
Am Mittag aßen sie Suppe in einem Landgasthof, dann machten sie Rast in einem Heuschober am Wegrand – und während alles, was bisher geschah, reine Legende ist, setzt zu jener Mittagsstunde, da sie im Heuschober schliefen, die Überlieferung meines Großvaters ein, der viele Jahrzehnte später gern und oft zum Besten gab, wie er Ende Mai 1918 zum ersten und einzigen Mal in den Großen Krieg geriet. Er erzählte seine Geschichte stets mit charmanter Zurückhaltung, detailgetreu auch nach vielfacher Wiederholung und glaubwürdig bis auf den kleinen, von allen Familienmitgliedern durchschauten Schwindel, dass Louise in seiner Version aus Gründen der Schamhaftigkeit kein Mädchen war, sondern ein Arbeitskamerad namens Louis.
Als nun also Léon und Louise – oder eben Louis – nach einer Stunde Schlaf im Heuschober wieder aufwachten, hörten sie durchs Ziegeldach entferntes Donnergrollen, das sie für ein Gewitter hielten. In aller Eile kletterten sie vom Heuschober hinunter, schoben ihre Räder ins Freie und fuhren los, die Haare und Kleider noch voller Stroh, um möglichst lang vor dem nahenden Unwetter herzufahren und es vielleicht erst nach der Ankunft in Saint-Luc über sich ergehen zu lassen.
Wie sich aber herausstellen sollte, handelte es sich beim Donner nicht um ein atmosphärisches Phänomen, sondern um das Mündungsfeuer deutscher Artillerie. Allmählich wandelte sich das Grollen in Knallen, dann wurde die Luft von Zischen, Sirren und Heulen zerschnitten, und dann stiegen hinter einem Wäldchen die ersten Rauchsäulen auf. In Panik flohen die beiden über die Landstraße, während hinter ihnen, vor ihnen und neben ihnen Rauchsäulen aufstiegen, und dann fuhren sie auch schon an einem frischen, rauchenden Bombenkrater vorbei, an dessen Rand ein gestürzter Apfelbaum seine Wurzeln in den Himmel streckte. Beißender Rauch lag in der Luft, Himmelsrichtungen gab es keine mehr, an Umkehr und Rückzug war, da die Gefahr von überall und nirgendwo herzukommen schien, nicht zu denken.
Immer schneller und noch schneller fuhren sie durch die detonierende Landschaft, Louise voraus und Léon in ihrem Windschatten, und als der Abstand zwischen ihnen sich vergrößerte und sie sich fragend umsah, winkte er ihr: Geh, geh!, und da sie zögerte und auf ihn zu warten schien, wurde er wütend und schrie: »Jetzt geh, verdammt!«, worauf sie entschlossen aus dem Sattel stieg und davonfuhr.
Louise war eben hinter einem Hügel verschwunden, als gerade dort eine Explosionswolke aufstieg. Léon schrie und stürmte hügelan. Als er die Anhöhe erreichte, explodierte einen Steinwurf vor ihm die Straße. Geröll flog baumhoch in die Luft, eine braune Wand aus Staub breitete sich aus. Dann tauchte ein Kampfflugzeug auf, bestrich die Straße mit Maschinengewehrfeuer und drehte wieder ab, während Léon mit Höchstgeschwindigkeit und zwei Kugeln im Bauch blindlings in den Krater stürzte, wo er einen Backenzahn, das Bewusstsein und in den folgenden Stunden ziemlich viel Blut verlor.
7. KAPITEL
Als Léon Le Gall am 17. September 1928 nachmittags um halb sechs wie gewohnt seine Laborschürze in den Spind hängte, Hut und Mantel herausnahm und sich auf den Heimweg machte, ahnte er nicht, dass sein Leben in den nächsten Minuten eine entscheidende Wendung nehmen würde. Wie tausendmal zuvor lief er am Quai des Orfèvres der Seine entlang und schaute gewohnheitsmäßig im Vorübergehen in die Kästen der Bouquinisten, dann ging er über die Brücke ans linke Ufer zur Place Saint-Michel.
Diesmal aber lief er ausnahmsweise nicht weiter den Boulevard hinauf ins Quartier Latin und bog nicht in die Rue des Écoles ein, wo er in Haus Nummer 14, gleich gegenüber vom Collège de France und von der Ecole Polytechnique, mit seiner Frau Yvonne und dem vierjährigen Michel in der
Weitere Kostenlose Bücher