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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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vierten Etage eine neue, helle Dreizimmerwohnung mit Riemenparkett und Stuckaturen an der Decke bewohnte – diesmal stieg er in Abweichung vom üblichen Heimweg an der Place Saint-Michel in die Métrostation hinunter und fuhr zwei Stationen in Richtung Porte d’Orléans, um in Yvonnes Lieblingskonditorei Erdbeertörtchen zu besorgen.
    Es war Dienstschluss in allen Banken, Büros und Kaufhäusern der Hauptstadt, die Straßen und die Métro waren bevölkert mit Tausenden von Männern, die einander zum Verwechseln ähnlich sahen in ihren schwarzen oder grauen Anzügen, ihren weißen Hemden und ihren dezenten Krawatten; manche trugen einen Hut und die meisten einen Schnurrbart, einige einen Gehstock und viele Gamaschen, und jeder Einzelne war unterwegs auf seinem Trampelpfad von seinem ganz persönlichen Schreibtisch zu seinem ganz persönlichen Küchentisch, von wo er nach seinem ganz persönlichen Abendbrot in seinen ganz persönlichen Ohrensessel und schließlich in sein ganz persönliches Bett sinken würde, wo ihn, wenn er Glück hatte, seine ganz persönliche Ehefrau durch die Nacht warm hielt, bevor er nach der morgendlichen Rasur aus seiner ganz persönlichen Tasse Kaffee trinken und wieder aufbrechen würde zu seinem ganz persönlichen Schreibtisch.
    Léon war längst darüber hinweg, sich über die banale Absurdität dieser täglichen Völkerwanderung zu wundern. In den ersten Jahren, nachdem er der Gravitation der Hauptstadt erlegen war, hatte er noch Heimweh gehabt und sich schwergetan mit dem Gebell der Stadtmenschen und der aggressiven Selbstverliebtheit der Pariser, dem Lärm der Automobile und dem Gestank der Kohleheizungen, und täglich aufs Neue hatte er sich darüber gewundert, dass er ein Glied jener Heerscharen geworden war, die Tag für Tag über die Trottoirs liefen und ihre neuen Anzüge herzeigten, die Ellbogen ausfuhren oder die Wände entlangstrichen, manche nur ein paar Monate, andere für die Höchstdauer von dreißig oder vierzig Jahren, einige in der Überzeugung, die Welt habe nur auf sie gewartet, andere in der Hoffnung, die Welt werde schon noch auf sie aufmerksam werden, und wieder andere im bitteren Wissen, dass die Welt, seit es sie gibt, noch nie auf jemanden gewartet hat.
    Damals hatte Léon sich von der Welt getrennt und in seinen Gedanken eingeschlossen gefühlt, und es war ihm ein Rätsel gewesen, wie all die anderen Kerle genussvoll Suppe schlürfen und Ehrgeiz in absurden Berufen entwickeln, alberne Witze reißen und blondierten Weibern den Hof machen konnten, ohne sich im Geringsten von der Welt getrennt oder eingeschlossen zu fühlen. Aber dann hatte sein erster Sohn Michel das Licht der Welt erblickt und ihm vom ersten Tag an lautstark zur Kenntnis gebracht, dass man im Leben selbstverständlich unbedingt Suppe essen muss, weshalb ein gewisser Ehrgeiz in absurden Berufen nicht a priori sinnlos ist, und dass sich diese Anstrengung leichter ertragen lässt, wenn man gelegentlich alberne Witze reißt oder einem blondierten Weib den Hof macht; zudem zog die Vaterschaft derart viele häusliche Pflichten nach sich, dass Léon schlicht die Muße nicht mehr hatte, sich von der Welt getrennt und in seinen Gedanken eingeschlossen zu fühlen, weshalb eine erhebliche Anzahl philosophischer Fragen ziemlich rasch dramatisch an Dringlichkeit einbüßte.
    Stattdessen lernte er die Zartheit eines absichtslosen Lächelns schätzen und die seltene Köstlichkeit ungestörter Nachtruhe, und nach dem ersten Frühlingsspaziergang mit Frau und Kind und Kinderwagen im leuchtenden Sonnengespinst des Jardin des Plantes hatte er sich sogar so weit mit dem Leben in der Großstadt ausgesöhnt, dass er nur noch selten Heimweh nach dem Strand von Cherbourg hatte und sich nur in stillen Augenblicken danach sehnte, mit seinen Freunden Patrice und Joël das alte Segelboot wieder flottzumachen und auf den Ärmelkanal hinauszufahren.
    Aber an Louise dachte er noch immer jeden Tag. Léon war nun achtundzwanzig Jahre alt; zehn Jahre war es her, seit er auf halbem Weg zwischen Le Tréport und Saint-Luc in einen Bombentrichter gefahren war. Er hatte nie in Erfahrung bringen können, wie lange er dort, triefend nass von stundenlangem Regen, in Schutt und Schlamm und seinem eigenen Blut gelegen hatte, mal ohnmächtig vor Schmerz, dann vom selben Schmerz wieder wachgehalten, bis aus östlicher Richtung in der Abenddämmerung ein hellbrauner Lastwagen mit rotem Kreuz auf weißem Grund heranrumpelte und am

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