Léon und Louise: Roman (German Edition)
Rand gefüllt war mit Miesmuscheln, Karotten, Zwiebeln und Meerwasser.
Die Kirchturmglocke schlug fünf, dann folgte das ferne Bimmeln der Straßenbahn; Léon hatte den Fahrplan studiert und wusste, dass es die letzte eintreffende Bahn des Tages war und dass der letzte Zug zurück nach Paris in einer knappen Stunde fahren würde.
Er schaute über den Kieselstrand, auf dem algenbesetzt und verblätternd die einstmals weißen Badehäuschen vermoderten. Dahinter standen die vornehmen Villen, die zwar noch frisch getüncht waren und tapfer Haltung bewahrten, mit ihren verschlossenen Fenstern und starr herunterhängenden Gardinen aber aussahen, als hätte es ihnen den Atem verschlagen vor Schreck über den Gang der Dinge in der Welt. Am entgegengesetzten Ende der Esplanade, in der Häuserlücke zwischen dem Hotel des Anglais und dem Spielcasino, musste, wenn sie heute noch Miesmuscheln essen wollte, in den nächsten Minuten Louise auftauchen.
Nachdem die Kirchturmglocke Viertel nach fünf Uhr geschlagen hatte, nahm Léon den Topf vom Feuer und begann zu essen. Erst aß er zögerlich und mit häufigen Seitenblicken zur Esplanade, dann aber rasch und entschlossen. Die leeren Schalen warf er auf den Strand. Dann ging er ans Wasser, wusch den Topf aus und legte ihn mit der Öffnung nach unten neben die Feuerstelle.
Auf dem Rückweg ging er nicht über den Strand, sondern auf direktem Weg über die Esplanade zurück zur Rue de Paris und hinauf zur Eglise Saint-Jacques.Die Madonna stand noch immer in ihrer Nische rechts neben dem Eingang. Ihre roten Wangen waren dieselben wie damals und die schwarzen Knopfaugen auch, nur das blaugoldene Gewand war ein wenig angegraut, und ihre Gestalt war nicht mehr gespickt mit gefalteten und gerollten Zettelchen; neu stand zu ihren Füßen eine Kasse, in die man Spenden für die Witwen ertrunkener Seeleute einwerfen konnte.
Léon erwog, sich vor der Madonna hinzuknien und versuchsweise ein Gebet zu murmeln; da er nicht sicher war, auch nur das Vaterunser lückenlos bis zum Ende hin aufsagen zu können, entschied er sich dagegen und warf eine Münze in die Kasse. Dann zog er sein Notizbuch hervor, schrieb ein paar Zeilen und riss die Seite heraus, rollte sie zusammen und steckte sie genau wie damals der Madonna unter die rechte Achsel.
Weil aber sein Zettelchen das einzige war, sah es unter Marias Achsel aus wie ein Thermometer, die Muttergottes schien Fieber zu haben. So zog er das Röllchen wieder heraus und steckte es ihr hinters Ohr, wo es aber aussah wie ein Schreinerbleistift. In den Falten des blauen Gewands wirkte es wie ein Dolch, zwischen den Lippen der Madonna wie eine Zigarette und zu ihren Füßen wie ein Knochen, den ein Hund herbeigeschleppt hatte. Schließlich steckte er den Zettel wieder unter die rechte Achsel, lief ins Freie und hinunter zum Hafen . Wenn er die letzte Straßenbahn erwischen wollte, musste er sich beeilen.
Viel zu früh saß Léon drei Tage später auf der Terrasse des Café de Flore . Es war Samstagnachmittag, der Boulevard Saint-Germain war voller Flaneure und Touristen. Drei Tassen Kaffee hatte er schon getrunken und fünf Zeitungen zwei Mal flüchtig durchgeblättert, und noch immer musste er zwanzig Minuten totschlagen, bis es endlich siebzehn Uhr wurde. Er knöpfte seine Jacke zu und wieder auf, streckte die Beine aus und zog sie wieder unter den Stuhl, fragte einen Sitznachbarn nach der genauen Uhrzeit und stellte seine Taschenuhr drei Minuten nach. Dann faltete er die Zeitungen ordentlich zusammen und stapelte sie aufeinander, und die ganze Zeit behielt er den Strom der Menschen im Auge.
Eigentlich saß er gegen seinen Willen da. Es war seine Frau Yvonne gewesen, die ihn genötigt hatte, diese Verabredung einzuhalten, von der er nicht einmal sicher war, ob es eine war. Als er vor zwei Tagen spätabends aus Le Tréport in die Rue des Écoles zurückgekehrt war, hatte er es wider Erwarten geschafft, unbemerkt an der Conciergerie vorbeizuschleichen. Im Treppenhaus auf dem Zwischenboden aber hatte Yvonne ihn erwartet, reisefertig mit Hut und Mantel und einem Koffer zu ihren Füßen. In der Faust hielt sie ein zerknülltes Taschentuch, das sie sich vor den Mund presste.
Léon wunderte sich wiederum; das war nicht die beschwipste Lebedame mit rosa Sonnengläsern, die er am Mittag im Park zurückgelassen hatte, auch nicht das trällernde junge Mädchen und auch nicht die zerquälte Hausfrau – diesmal war Yvonne eine griechische Tragödin,
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