Léon und Louise: Roman (German Edition)
der Rechnung. Wahrscheinlich ein bisschen mehr, als du in einem Monat verdienst. Wie viel verdienst du eigentlich?«
»Yvonne …«
»Weißt du, es ist von Renault.«
»Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank!«
»Ein echter kleiner Renault, hergestellt in den Montagehallen in Boulogne-Billancourt, verstehst du? Der Verkäufer hat’s mir erklärt. Die Kraft wird von den Pedalen über einen Kardan auf die Hinterachse übertragen wie bei einem richtigen Renault, das musst du dir anschauen.«
»Yvonne …«
»Weißt du, was ein Kardan ist?«
»Ja.«
»Was?«
»Ein Zahnradgestänge zwecks Kraftübertragung.«
»Richtig. Was sagst du zu meinem Kleid?«
»Hör mir zu.«
»Die Sonnenbrille ist ein bisschen albern, das gebe ich zu.«
»Du sollst mir zuhören.«
»Nein, jetzt hörst du mir mal zu, Léon. Wirst du mir zuhören?«
»Natürlich.«
»Was willst du mir sagen – dass ich eine Dummheit gemacht habe?«
»Allerdings.«
»Siehst du, da sind wir uns einig. Ich habe eine Dummheit gemacht. Aber du hast auch eine Dummheit gemacht.«
»Du treibst uns in den Bankrott mit deinen Zahnradstangen.«
»Und du bist heute schon ziemlich viel Métro gefahren, ist es nicht so?«
Léon schwieg.
»Ich kenne dich gut, weißt du? Ich habe gewusst, dass du es tun würdest, bevor du selbst es gewusst hast. Von hinten habe ich es dir angesehen, als du heute früh aus dem Haus gegangen bist. Am schuldbewussten Wackeln deines hübschen kleinen Knabenhinterns habe ich es dir angesehen, dass du heute Métro fahren würdest.«
»Und deswegen bist du mit dem Kleinen in die Galeries Lafayette gelaufen?«
»Genau.«
»Entschuldige, aber ich sehe den Zusammenhang nicht.«
»Léon, dieses Métrofahren ist eine Schande und eine Beleidigung – für dich und für mich und für uns beide. Ich will nicht, dass du solche miesen kleinen Dummheiten machst. Du machst dich lächerlich, und mich machst du zum Gespött vor mir selbst. Das muss aufhören. Entweder suchst du das tote Mädchen, oder du suchst es nicht.«
»Da hast du recht.«
»Wenn du sie aber suchst, musst du es richtig tun. Sonst werde ich dir zeigen, wie man nicht miese kleine, sondern richtig große Dummheiten macht. Solltest du weiter deine miesen kleinen Métrofahrten unternehmen, werde ich Dummheiten machen, dass dir Hören und Sehen vergeht.« Sie nahm seine rechte Hand zwischen ihre Hände und klemmte sie zwischen ihre Knie, dann lehnte sie den Kopf an seine Schulter.
»Sag, werde ich dich verlieren, Léon?« Ihre Stimme war plötzlich dünn, und ihr Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck, als würde sie sich die Brauen zupfen oder Haarwachs von den Beinen reißen. »Wirst du fortgehen? Verliere ich dich?«
»Wie kannst du so was fragen. Auf gar keinen Fall gehe ich fort, das ist ganz ausgeschlossen.«
»Das ist lieb, dass du das sagst. Aber wir wissen es besser, wir beide, nicht wahr? Du wirst zwar wahrscheinlich nicht fortgehen, das stimmt. Aber eigentlich habe ich dich schon verloren – oder ich habe dich nie gehabt. So ist es nun mal. Und jetzt kann es entweder noch schlimmer werden, oder es wird ein bisschen besser. Das kommt ganz auf uns beide an.«
»Ich sitze hier bei dir, Yvonne. Das siehst du doch. Und zwar, weil ich das will. Ich werde nicht weggehen, das schwöre ich dir.«
»Und deine Schwüre hältst du immer, ich weiß.« Sie seufzte und tätschelte ihm die Seite wie einem Hund. »Trotzdem solltest du keine Zeit verlieren, Léon. Mach dich auf die Suche, solange die Fährte frisch ist.«
»Es hat keinen Sinn.«
»Ich befehle es dir. Denk dir was aus, wie du die Frau finden kannst. Schließlich bist du bei der Polizei.«
Eine Weile saßen sie schweigend beisammen und betrachteten den kleinen Michel, der mit seinem Feuerwehrauto auf dem Kiesweg im Kreis fuhr. Als der Druck ihrer Knie nachließ, nahm er ihre rechte Hand und drückte sie fest an seine Lippen. Er löste sich von ihr und nickte, als ob er einen Entschluss vor sich selbst bekräftigen müsste. Dann ging er ohne ein weiteres Wort rasch und entschlossen davon. Es fühlte sich an, als ob nicht er selbst sich entfernte, sondern als ob die Rue des Écoles hinter ihm zurückwich.
10. KAPITEL
Der Schnellzug nach Boulogne fuhr hinaus in die Picardie. Léon saß allein in einem überheizten Abteil zweiter Klasse und versuchte die Nachmittagsausgabe des Aurore zu lesen, schaute aber alle paar Augenblicke hinaus ins herbstlich braune Land. Nur kurz hatte er, als er seine Frau
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