Léon und Louise: Roman (German Edition)
Amiens und Abbeville folgte die Schiene jener gepflasterten Landstraße, über die Louise und Léon damals gefahren waren. Er glaubte sich dieses Bauernhofs oder jener Getreidemühle zu erinnern, vielleicht auch einer einsamen Linde oder einer besonders hübschen Villa, und hielt angestrengt Ausschau nach dem einen Hügelzug, an dem Louise und er, nur einen Steinwurf voneinander entfernt, jeder für sich in einem Bombentrichter gelegen hatten. In den zehn Jahren seit Kriegsende waren die augenfälligsten Spuren kriegerischer Verwüstung verschwunden; die Menschen hatten die Straßen repariert und die Häuser neu gebaut, und die Natur hatte die Schützengräben eingeebnet und die Bombenkrater gnädig grün bedeckt.
In Abbeville stieg er um in das Touristenbähnchen, das ihn in holpriger Fahrt nach Le Tréport brachte. Er war der einzige Fahrgast außer ein paar Schülern und einem Mädchen in Holzschuhen, das einen Korb Weißkohl auf dem Schoß hatte. Der Straßenbahn war anzusehen, dass in den Jahren von Krieg, Inflation und Wirtschaftskrise die Pariser Sommerfrischler ausgeblieben waren; die lila Sitzpolster waren abgewetzt und zerschlissen und die Fensterscheiben trüb, die Lederriemen rissig und die Chromstangen blind, und das Gleis war verbogen, und zwischen den Schienen wuchs Unkraut. Unterwegs stieg niemand zu und niemand aus. Erst an der Endstation am Quai François 1er polterten die Schüler ins Freie, das Mädchen mit den Holzschuhen schlurfte hinterher.
Auf dem Hafenquai schaute Léon sich um, als bestände die geringste Aussicht, dass aus einer Seitengasse, in einem Fenster, an Bord eines Fischerboots ein Mädchen mit grünen Augen auftauchte. Bei jenem Kandelaber dort hatten sie damals ihre Räder abgestellt, ungefähr bei diesem Poller hatte sie sich bei ihm eingehängt. Hier hatte sie die weißen Fettstreifen ihres Schinkenbrots ins Hafenbecken geworfen, dort hatte sie ihm mit spitzen Fingern ihren letzten Bissen in den Mund geschoben, und da hatte sie über die gezuckerten Arschgesichter der Sommerfrischler geschimpft. Von diesem Brunnen hatte sie Wasser getrunken, über diese Pflastersteine, zwischen denen nun Gras und Moos wuchs, war sie mit ihren schwarzen, ausgetretenen Schnürschuhen gegangen.
Die Touristenboote, die damals fauchend und dampfend ein- und ausgefahren waren, lagen nun fest vertäut an der Hafenmauer und hatten Algen am Rumpf und Bretter vor den Luken. Auf dem Quai sah man keine weißen Sonnenschirmchen, keine rosa Bottinen und keine gleißenden Gamaschen mehr, sondern verhutzelte Möwen, struppige Hunde und eine Horde barfüßiger Buben, die mit einer leeren Dose Fußball spielten. Nur die Fischer waren immer noch da und brachten ihre Netze in Ordnung, rauchten ihre Pfeifen und strichen sich mit knotigen Händen über ihre furchigen Nacken.
Léon ging hinaus zum Leuchtturm, setzte sich auf die Mauer und rutschte nach links und nach rechts, bis er die deutliche Empfindung hatte, Louises Platz gefunden zu haben. Dann legte er die Hände aufs Gemäuer und streichelte die Steine. Plötzlich bemerkte er, dass er hungrig war; er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
Das Café du Commerce , in dem Louise ihm den Unterschied zwischen reichen und armen Langweilern dargelegt hatte, war geschlossen. Fenster und Türen waren vergittert, vor dem Eingang lag angewehtes Herbstlaub und vergilbtes Zeitungspapier. Ein gelber Hund scharwenzelte vorbei, hob eine Hinterpfote und urinierte, auf drei Beinen weiterhumpelnd, an der Hauswand entlang.
Léon überholte ihn und ging vorbei an einem zugesperrten Fachgeschäft für Spitzenklöppeleien, dann an einem geschlossenen Kiosk, einem windschiefen Wohnhaus und einem bunt bemalten Laden, der Aux Quatres Vents hieß und früher Strandspielsachen verkauft hatte. Dahinter gab es eine Eisenwarenhandlung, in der Licht brannte. Léon stieß die Tür auf und ging hinein, kaufte einen blau emaillierten Kochtopf und stieg die Rue de Paris hinauf, wo er damals Brot, Wein und Gemüse besorgt hatte.
Eine Stunde später saß er zwischen den zwei Felsblöcken, die massig, unverrückbar und unverändert am Ende des Strands lagen. Es war Ebbe, die Brandung warf sich kraftlos und mürrisch gegen den grauen Kieselstrand, und die Möwen spielten mit dem Aufwind. Erst jetzt wurde Léon bewusst, wie lange schon und wie sehr er ihr Gekreisch vermisst hatte. Er stocherte in der Glut seines Lagerfeuers, legte Treibholz nach und rührte im Kochtopf, der bis zum
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