Léon und Louise: Roman (German Edition)
im Park zurückgelassen und auf den Boulevard Saint-Michel zurückgekehrt war, in Erwägung gezogen, bei den Kollegen vom Kommissariat vorbeizuschauen und Louise mit polizeilichen Mitteln suchen zu lassen; dann aber war ihm klar geworden, dass daraus nichts Gutes entstehen konnte. Erstens hätte er sich zum Gespött seiner Kollegen gemacht, zweitens wäre die Fahndung, falls sie entgegen allen Erwartungen tatsächlich aufgenommen worden wäre, mit größter Wahrscheinlichkeit ergebnislos geblieben, und drittens hätte Louise, falls sie tatsächlich aufgestöbert worden wäre, es gewiss nicht sehr romantisch gefunden, wenn der lang verlorene Jugendfreund ihr nach zehn Jahren Trennung als erstes Lebenszeichen eine Horde uniformierter Polizisten auf den Hals gehetzt hätte.
Also hatte Léon beschlossen, Louise auf eigene Faust zu suchen. Zwar waren ihm, der seine Tage in der Abgeschiedenheit des Labors verbrachte, die Fahndungsmethoden der Police Judiciaire nur in vagen Zügen bekannt; eine Grundregel der Kriminalistik aber – dass der Täter oft an den Tatort zurückkehrt – war ihm geläufig. Und da Louise und er in diesem Fall beide gewissermaßen Täter, Komplizen sowie Opfer und Fahnder zugleich waren, fuhr er mit der Métro an die Gare du Nord und kaufte einen Fahrschein nach Le Tréport. Die direkte Strecke über Epiney war in jenem September 1928 wegen Bauarbeiten gesperrt, er musste einen Umweg über Amiens und Abbeville machen.
Wie die meisten Städter verließ Léon die Stadt nur selten. Zwar schwor er wie alle Pariser bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er, wenn es nur möglich wäre, den Lärm, den Schmutz und die Hektik der Lichterstadt leichten Herzens hinter sich lassen würde für ein stilles, friedfertiges Leben irgendwo in der Provinz und dass er die Opéra, die Bibliothèque Nationale und alle Lichtspieltheater von Paris freudig eintauschen würde gegen ein Glas Burgunder in der Sonne des Südens, eine Partie Pétanque unter Freunden und einen langen Spaziergang durch Wälder und Rebberge mit seinem Hund, den er sich dann zulegen würde und der vielleicht ein schwarzweißer Cocker-Spaniel namens Casimir oder Patapouf wäre.
Weil es aber für Léon in den Rebbergen des Südens keine Arbeit gab und er sich insgeheim wie alle Pariser darüber im Klaren war, dass er sich in der Provinz binnen kürzester Frist zu Tode langweilen würde, harrte er in der ungeliebten Stadt aus. Ein oder zwei Mal während der schönen Jahreszeit fuhr er mit Frau und Kind an Bord eines Bateau Mouche die Seine hinunter und hielt im Wald von Saint-Germain-en-Laye ein Picknick ab, und zwischen Weihnachten und Neujahr nahm er die Bahn nach Cherbourg, um Mutter und Vater zu besuchen. Die übrigen dreihundertfünfzig Tage verbrachte er innerhalb der Stadtgrenzen, wobei er an rund dreihundert Tagen von der Stadt selbst nicht viel mehr zu sehen bekam als die paar Straßenzüge zwischen der Rue des Écoles und dem Quai des Orfèvres.
Léon wunderte sich wieder einmal, wie unvermittelt am Stadtrand das Häusermeer abbrach und das grün-braune Wogen der Weiden, Wiesen und Äcker einsetzte. An der Porte de la Chapelle standen neben den Schienen noch ein paar Fabriken und Lagerhallen, am Ufer der Seine einige Schuppen und Scheunen; gleich hinter dem Gasometer von Saint-Denis aber, wo noch dichter, träger Rauch aus den Hochkaminen quoll, trieb schon ein Bauernbub Kühe auf die Weide, strebte eine schnurgerade Pappelallee zum Horizont und bogen sich goldgelbe Weiden unter dem scharfen Nordostwind.
Léon empfand den dringenden Wunsch, am nächsten Bahnhof auszusteigen, irgendein Fahrrad zu kaufen – oder noch besser: zu stehlen – und unter freiem Himmel, an der frischen Luft, im Regen und gegen den Wind ans Meer zu fahren. Der Hintern würde ihn schmerzen wie damals, er würde Muskelkater bekommen wie damals, er würde unterwegs seltsames Zeug einsammeln und den Horizont im Auge behalten in der irren Hoffnung, dass dort ein Mädchen mit rotweiß gepunkteter Bluse und quietschendem Fahrrad auftauchte. Er würde Brot und Schinken kaufen und Wasser vom Brunnen trinken, sich hinter den Hecken erleichtern wie ein Bauernbub und bei Gewitter in leeren Scheunen Zuflucht suchen wie ein Landstreicher – und es würde alles sinn- und aussichtslos und eine miese kleine Dummheit sein; unwürdig seiner Yvonne, unwürdig seiner Louise und unwürdig seiner selbst.
Die Fahrt dauerte zwei Stunden und fünfunddreißig Minuten. Zwischen
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