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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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geredet«, sagte er.
    »Möchtest du denn reden?«
    »Nein«, sagte er. »Du?«
    »Ein bisschen geredet haben wir ja schon.«
    »Aber nicht darüber.«
    »Nein.«
    »Nur über Autos.«
    »Und über Métropolis.«
    »Und über Kellog und Fitzmaurice.«
    »Und über Chanel-Röcke und blöde Glockenhüte. Und über deine Concierge und deine vermantschten Erdbeertörtchen.«
    »Und über deine Inflation und deine Banque de France.«
    »Und über Elefanten. Wie ging der Witz mit den Elefanten nochmal?«
    »Liest du immer noch die Romane von Colette?«
    »Ach, die dumme Kuh. Nie hat mich jemand so enttäuscht. Ich habe keine Zigaretten mehr.«
    »Sind oben noch welche?«
    »Im Auto.«
    »Ich hole sie dir.«
    »Bleib hier«, sagte sie und drückte seine Hand. »Geh nicht fort von mir. Noch nicht.«
    Er zog sie näher an sich und küsste sie.
    »Ich habe Hunger«, sagte sie. »Lass uns bestellen, bevor die Küche zusperrt.«
    »Ich nehme Steak Frites«, sagte er.
    »Ich auch.«
    Léon winkte den Wirt heran und gab die Bestellung auf, dann erzählte er, um Louise zum Lachen zu bringen, eine Geschichte.
    Es war die Geschichte jenes Clochards, der jahrein, jahraus Tag für Tag vor dem Musée Cluny saß und dem Léon jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit eine Münze in den Hut legte. Der Mann roch nach Rotwein, war aber meistens frisch rasiert, und man konnte sehen, dass er sich bemühte, seine abgetragenen Kleider sauber zu halten. Sie grüßten einander stets freundlich und wechselten manchmal ein paar Worte, und zum Abschied wünschten sie einander einen schönen Tag.
    Alle paar Monate kam es vor, dass die Schwelle des Museumstors frühmorgens, wenn Léon zur Arbeit ging, leer war; dann fragte er sich besorgt, ob dem Clochard über Nacht etwas zugestoßen sei. Und wenn er mittags dann wieder dasaß, winkte Léon ihm erleichtert zu. Über die Jahre war der Mann ihm ans Herz gewachsen; er sorgte sich um ihn wie um einen Onkel zweiten Grades, der einem zwar nicht sehr nahe steht, aber doch irgendwie zur Familie gehört.
    Zwar kannte er seinen Namen nicht und wollte ihn auch nicht kennen, und er wollte auch nicht wissen, wo er seine Nächte verbrachte und ob er noch irgendwo Angehörige hatte; aber über die Jahre hatte sich bei Léon doch einige Kenntnis über den Mann angesammelt. So wusste er, dass der Clochard eine Vorliebe für Gänseleber und im Winter böses Hüftgelenksrheuma hatte und dass er früher eine Frau namens Virginie und eine Stelle als Sigrist samt Dienstwohnung in einer Kirche irgendwo in der Banlieue gehabt hatte, bevor ihm durch eigenes oder fremdes Verschulden zuerst die Frau oder die Stelle oder die Wohnung abhandengekommen war und er in der Folge auch den Rest dieser kleinbürgerlichen Dreifaltigkeit verlor, weil diese eben nur komplett oder gar nicht zu haben war.
    Umgekehrt hatte sich auch der Clochard ein Bild von Léon gemacht; wenn eine Grippewelle umging, erkundigte er sich nach dem Befinden des Nachwuchses und der werten Gattin, und wenn in den Zeitungen ein Giftmord Schlagzeilen machte, wünschte er gutes Gelingen im Labor.
    Der Clochard war über die Jahre zu einem der wichtigsten Menschen in Léons Leben geworden; denn außer ihm gab es nicht sehr viele, mit denen er täglich ein paar Worte wechseln und vertrauensvoll annehmen konnte, dass sie ihm ohne Hintergedanken wohlgesinnt waren. Der Clochard war im Lauf der Zeit Léons persönlicher Clochard geworden. Wenn es vorkam, dass vor seinen Augen ein anderer Passant Geld in dessen Hut legte, empfand er beinahe so etwas wie Eifersucht.
    Im Oktober des vergangenen Jahres war es geschehen, dass der Clochard drei Tage in Folge nicht an seinem Platz gesessen hatte. Am vierten Tag aber war er wieder da gewesen, und in seiner Erleichterung hatte Léon ihn auf einen Kaffee ins nächste Bistrot eingeladen. Dort hatte dieser ihm berichtet, dass er vier Nächte zuvor, als ein bissiger Nordwind scharfen Graupelregen durch die Straßen des Quartier Latin gepeitscht hatte, auf der Suche nach einem Schlafplatz sturzbetrunken in die Gegend der Gare de Lyon geraten war und einen leeren, nicht abgeschlossenen Viehwagen gefunden hatte. Er hatte die Schiebetür aufgezogen und war hineingestiegen ins wohlig windstille Dunkel, hatte die Tür verriegelt, sich im Stroh in seine Decke gewickelt und war sekundenschnell in tiefen Schlaf gefallen.
    So tief war sein Schlaf gewesen, dass er nicht aufwachte, als der Viehwagen mit einem Ruck anfuhr, und er schlief weiter, als der

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