Léon und Louise: Roman (German Edition)
Kilometer pro Stunde.«
»Ich weiß«, sagte er. »Der Torpedo hat vor ein paar Jahren die Coupe des Alpes gewonnen.«
»Zweimal in Folge. Ich habe ihn mir zu meinem Dienstjubiläum bei der Banque de France geschenkt. Er war günstig im Preis, ein paar Dellen hatte er schon.«
»Der Name passt aber nicht recht.«
»Wieso?«
»Weil ein Torpedo die Spitze vorn und nicht hinten hat.«
»Wenn du willst, kann ich gern im Rückwärtsgang durch die Gegend fahren.«
»Du arbeitest bei der Banque de France?«
»Seit fünf Jahren.«
»Respekt.«
»Nein. Man behandelt mich dort wie die letzte Tippmamsell.«
»Wieso?«
»Weil ich die letzte Tippmamsell bin. Den ganzen Tag tippe ich Durchschläge von Tabellenkalkulationen ab und muss jeweils fünf Durchschläge erstellen.«
»Deswegen der Torpedo?«
»Genau.«
»Fahrrad fährst du nicht mehr?«
»Wenn ich irgendwo hinmuss, nehme ich das Auto. Und wenn ich nirgends hinmuss, nehme ich auch das Auto.«
»Und wenn du ans Meer fährst?«
»Dann nehme ich erst recht das Auto.«
»Wieso habe ich dich dann in der Métro gesehen?«
»Da war der Wagen in der Reparatur.«
»Du arbeitest am Hauptsitz?«
»An der Place de la Victoire.«
»Ich bin seit zehn Jahren am Quai des Orfèvres. Das ist nur ein paar hundert Meter entfernt.«
»Tja«, sagte Louise. »Da haben wir uns ein paar Jahre lang ziemlich nah beieinander die Hintern plattgesessen. Das nennt man Pech.«
»Ja.«
»Jetzt lass uns erst mal schweigen. Wir fahren ein Stück aus der Stadt hinaus, wenn’s dir recht ist. Später werden wir reden.«
Louise schaltete vom dritten in den vierten Gang und fuhr mit durchgedrücktem Gaspedal am Jardin du Luxembourg entlang, dann weiter südwärts am Observatorium vorbei in die Avenue d’Orléans. Sie ließ die linke Hand über die Autotür baumeln und lenkte den Wagen mit der rechten Hand, überholte Pferdefuhrwerke und Autobusse links und rechts, wo sich grad eine Lücke auftat, und wo die Straße über eine Kreuzung führte, schlingerte sie mit Höchstgeschwindigkeit zwischen Fußgängern, Fahrrädern und Autos hindurch. Wenn ein Bus oder Lastwagen keinen Platz machte, drückte sie auf die Hupe und fluchte, krakeelte und schimpfte, bis dieser erschrocken zur Seite wich, und wenn sie dann durch die Lücke preschte, streckte sie den Arm aus dem Fenster und machte dem überholten Fahrer Handzeichen, die im Normalfall, wenn sie unter Männern ausgetauscht werden, zu einer Prügelei führen.
Léon schaute mit begeistertem Entsetzen den todbringenden Hindernissen entgegen, die links und rechts am Torpedo vorüberflogen, und warf Seitenblicke auf Louise, die nun, da der Verkehr nicht mehr so dicht war und die Straße hinaus auf Wiesen und Felder führte, ihren schönen Kopf in den Nacken gelegt hatte und unter halbgeschlossenen Lidern nach vorne schaute.
Den Lederhelm und die Autobrille hatte sie abgelegt. In ihrem Mundwinkel lag die Ahnung eines Lächelns, das Kinn reckte sie erwartungsvoll nach vorn, und ihr Hals hatte einen Anschein von Weichheit, den er früher nicht gehabt hatte. Eine feine Falte zog sich von der Kuhle unter ihrem Ohr zur Kehle hin, was ihrer noch immer mädchenhaften Erscheinung zusammen mit den Silberfäden über der Schläfe eine frauliche Würde gab. Um ihre Augen spielte ein zwinkernder Zug von Ironie, von dem Léon gern gewusst hätte, ob er den anderen Verkehrsteilnehmern galt oder ihrem plötzlichen Beisammensein in der Beengtheit des kleinen Sportwagens. Ihre Hände ruhten nun auf dem Lenkrad. Léon bemerkte, dass sie keinen Ring trug.
»Jetzt hör schon auf zu glotzen«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »In einer halben Stunde halten wir an, dann können wir reden.«
11. KAPITEL
Die nahen Wälder von Fontainebleau waren ein schwarzer Streifen unter dem Nachthimmel, in der Ebene duckten sich kleine Dörfer, in denen spät am Abend nur noch vereinzelte Lichter brannten. Im Relais du Midi , der an der Landstraße zwischen zwei namenlosen Orten stand, tranken Fernfahrer und Handelsreisende Bier, der Kohleofen in der Mitte der Gaststätte verbreitete brütende Hitze.
In einer Ecke am Fenster saßen Louise und Léon nahe beieinander. Er hatte den rechten Arm um ihre Taille gelegt, sie lehnte an seiner Schulter und hielt mit der rechten seine linke Hand. Durch die Ritzen des Fensters wehte ein kühler Luftzug, der den Rauch ihrer Zigarette horizontal zum Kohleofen trug.
»Wir haben immer noch nicht
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