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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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die er eigentlich beschützen sollte, und dessen oberstes Ziel es war, jederzeit alles über jeden zu wissen, der kein lupenreiner Franko-Franzose war.
    Die prächtigsten Hotels von Paris und die schäbigsten Pensionen der Banlieue hatten täglich ihre Meldescheine in Büro 205 abzugeben, jedes Arbeitsamt musste seine Ausländer melden, jede Gerichtsbehörde sachdienliche Meldungen machen, und jeder anonyme Denunziant fand hier ein offenes Ohr bei gewissenhaften Beamten, die jede Verleumdung sorgfältig auf eine Karteikarte übertrugen und für alle Zeit in einem Register ablegten.
    Es gab Millionen rote Karteikarten für die Registrierung der ausländischen Population nach Straßenzügen, Millionen graue Karteikarten für die Erfassung nach Nationalitäten, Millionen gelbe Karteikarten für politische Informationen; Juden, Kommunisten und Freimaurer wurden in separaten Karteien geführt. So zahlreich waren die Karteien, dass sie in zentralen Registern zusammengefasst werden mussten, welche wiederum in einem großen, allumfassenden Register zusammenliefen, und alle diese Karteien und Register wurden in Büro 205 in hölzernen Kästen und Hängeregistraturen methodisch abgelegt auf himmelhohen Regalen, die sämtliche Wände der weitläufigen Bürohalle bedeckten.
    Draußen vor der Tür von Büro 205 standen lange Wartebänke, die blankgescheuert waren von den Hosenböden Hunderttausender polnischer Juden, deutscher Kommunisten und italienischer Antifaschisten, die hier über die Jahre viele Stunden, Tage und Wochen verbracht hatten in der zitternden Hoffnung, dass endlich ihr Name aufgerufen würde und man sie einlasse in Büro 205, wo ein kleiner Beamter hinter einem Schreibtisch sie misstrauisch über seinen Brillenrand hinweg mustern, rote und graue Karteikarten konsultieren, nach langem Stirnrunzeln hoffentlich gnädig seinen Stempel zücken und bitte, bitte die Aufenthaltsbewilligung um eine weitere Woche, einen weiteren Monat verlängern würde.
    Die Glocken von Notre-Dame hatten gerade halb neun geschlagen, als auf dem Quai des Orfèvres ein schwarzer Citroën Traction Avant vorfuhr. Die Beifahrertür ging auf, und Roger Langeron, der Polizeipräfekt von Paris, stieg aus. Er wandte sich mit einem Megaphon übers Autodach an das Heer der wartenden Männer.
    »MESSIEURS, ICH BITTE UM IHRE AUFMERKSAMKEIT. SONDEREINSATZ SÄMTLICHER BEAMTER DER POLICE JUDICIAIRE NACH KRIEGSRECHT. ALLE MANN ÜBER TREPPE F IN DIE ERSTE ETAGE, BEREITHALTEN IM FLUR VOR BÜRO 205! BEEILUNG, WENN ICH BITTEN DARF, DIE ZEIT DRÄNGT. DIE DEUTSCHEN STEHEN SCHON VOR COMPIÈGNE!«
     
    Léon stieg an der Seite seines jungen Kollegen über Treppe F in die erste Etage und setzte sich im Flur auf die Wartebank. Die Tür zu Büro 205 stand offen. Im Saal, der sonst berühmt war für seine klösterliche Stille und die geradezu maschinelle Präzision der Arbeitsabläufe, herrschte ein brummendes Gewimmel wie auf dem Flohmarkt. Auf hohen Leitern standen Männer mit Ärmelschonern und zogen Karteikästen aus den Regalen, die sie hinunterreichten an andere Männer mit Ärmelschonern, welche sie zu einem großen Schreibtisch in der Mitte des Saales trugen, hinter dem der Polizeipräfekt persönlich Platz genommen hatte. Er prüfte jeden einzelnen Karteikasten und schob ihn dann entweder ans linke oder ans rechte Ende seines Schreibtischs. Was nach links ging, war zur sofortigen Vernichtung bestimmt, nach rechts gingen die Kästen, die in Sicherheit gebracht werden sollten.
    An beiden Enden des Schreibtischs bildeten sich zwei Menschenketten, über welche die Karteien abtransportiert wurden. Sie führten parallel zueinander hinaus in den Flur zur Treppe F und hinunter ins Erdgeschoss, dann durchs Hauptportal ins Freie und über den Quai des Orfèvres ans Ufer der Seine. Die zur Vernichtung bestimmten Akten wurden ein paar Schritte flussabwärts ins Wasser geworfen, wo sich die einzelnen Blätter voneinander lösten und in der Strömung davontrieben wie übergroßes Herbstlaub; das zur Aufbewahrung bestimmte Material wurde weiter oben in zwei eigens requirierte Lastkähne verladen.
    Léon reihte sich in jener Kette ein, welche die Karteikarten der Vernichtung zuführte. Acht Stunden stand er auf der Treppe und reichte Tausende von Kisten, Kästen und Ordnern weiter, in denen millionenfache Zeugnisse von Menschenleben lagen, die im trüben Wasser der Seine davontreiben, zerfleddern, zerfließen und auf den Grund des Flusses sinken würden, wo

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