Léon und Louise: Roman (German Edition)
weckte, schon eine Stunde später war als gewohnt. Da der Aurore auch am zweiten Morgen nicht vor der Tür lag, wäre ihm die Zeit am Küchentisch ohnehin lang geworden; es fühlte sich gut an, für einmal nicht wie ein Untoter durch die Nacht zu wandeln, sondern in der ungewohnten Stille, die sich über die Stadt gelegt hatte, ebenso lang im Bett zu bleiben wie seine Frau und die Kinder. Zudem waren die zwei Tage Hausarrest, die ihnen die Besatzungsmacht verordnet hatte, auch so noch lang genug. Die Familie Le Gall verbrachte sie lesend, essend und beim Kartenspiel. Der älteste Sohn Michel, der nun auf geradezu lächerliche Weise dem Burschen ähnelte, der Léon zu Zeiten seiner Segeltouren auf dem Ärmelkanal gewesen war, hantierte stundenlang am Frequenzregler des Radiogeräts und suchte nach Nachrichten, während sämtliche Sender nur noch Radiomusik spielten. Léon und Yvonne versuchten ihre Besorgnis hinter übertriebenem Frohsinn zu verbergen und weckten den Argwohn der Kinder, indem sie sie in den unpassendsten Momenten zu küssen versuchten.
Wenn Léon ans Fenster trat, ließ Michel vom Radiogerät ab und trat schweigend neben seinen Vater, verschränkte wie er die Hände hinter dem Rücken, kaute wie er auf der Unterlippe und schaute wie er hinunter aufs Kopfsteinpflaster, wo ab und an ein deutscher Armeelastwagen vorbeifuhr, manchmal eine Ambulanz, ein Leichen- oder Polizeiwagen, einmal sogar ein Jauchewagen, der seiner unaufschiebbaren Pflicht nachging.
So still war es draußen, dass man, wenn auf der Straße eine Patrouille vorüberging, durch die geschlossenen Fenster das Trampeln ihrer Soldatenstiefel hören konnte. Und weil sich nach zwei Monaten fast unablässigen Sonnenscheins an jenem Morgen der Himmel mit Schleierwolken bedeckt hatte, waren die Vögel verstummt, als würden auch sie sich den Befehlen der Deutschen fügen.
Alle zwei oder drei Stunden schlich Léon aus der Enge der Wohnung die Treppe hinunter und wagte einen Schritt aufs Trottoir, um nach links und rechts zu spähen, in die Stille zu lauschen und zu schnuppern; aber nie gab es etwas zu sehen, zu hören oder zu riechen, was ihm den geringsten Hinweis auf den Stand der Dinge in der Welt gegeben hätte.
Am dritten Morgen war der Hausarrest vorbei, Paris wachte wieder auf. In der Morgendämmerung überlegte Léon, ob es klüger sei, vorschriftsgemäß zur Arbeit zu gehen oder noch einen Tag im Schutz der Wohnung zu verbringen. Von der Straße her war dünner Motorenlärm und gelegentliches Hufgetrappel zu hören. Léon schlich, um Yvonne nicht zu wecken, auf Zehenspitzen ans Fenster und schob den Vorhang beiseite; ein Taxi fuhr vorbei, dann ein Léclanché-Lastwagen und eine Frau auf einem Fahrrad; ein behaarter Bursche mit ärmellosem Unterhemd stieß einen fahrbaren Gemüsestand übers Kopfsteinpflaster.
Vom Krieg aber war noch immer keine Spur zu sehen – am Himmel hingen keine schwarzen Rauchwolken, in der Rue des Écoles stand keinerlei Kriegsgerät, im Park gegenüber blühten die Magnolien, es gab keine Schützengräben, und nirgends war ein Soldat oder ein Zeichen von Kampf und Zerstörung zu sehen.
»Die Deutschen machen sich unsichtbar«, dachte Léon, »oder sie sind schon wieder weg. Richtig gefährlich sieht es draußen jedenfalls nicht aus.«
Er beschloss, zur Arbeit zu gehen; wahrscheinlich wäre es für ihn gefährlicher gewesen, zu Hause zu bleiben und ein Verfahren wegen Dienstpflichtverletzung nach Kriegsrecht zu riskieren. Léon rasierte sich an jenem Morgen etwas sorgfältiger als gewöhnlich, zog frische Unterwäsche und seinen neuen Tweedanzug an; falls ihm etwas zustoßen sollte, wollte er im Krankenhaus, im Gefängnis oder in der Leichenhalle eine gute Figur abgeben. Während er in der Küche seinen Kaffee trank, schrieb er einen Zettel für Yvonne, nahm Hut und Mantel von der Garderobe und zog leise die Wohnungstür hinter sich zu.
Im Erdgeschoss fiel ihm auf, dass Madame Rossetos’ Glastür einen Spalt offen stand. Er blieb stehen und lauschte. Da er nichts hörte, trat er näher und rief die Concierge beim Namen. Dann klopfte er und stieß die Tür auf. Die Loge lag im Dämmerlicht und war leergeräumt. In einer Ecke stand ein Besen, daneben ein Eimer, darüber ein zum Trocknen ausgebreiteter Bodenlappen. An der Stelle, an der das Portrait des verstorbenen Sergeanten Rossetos gehangen hatte, prangte ein helles Rechteck auf der geblümten Tapete. In der Luft lag der Geruch von gedünsteten Zwiebeln
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