Léon und Louise: Roman (German Edition)
durch den schwarzen Tunnel, will und will nicht anhalten. Zurück in den Schoß von Mutter Erde?«
So oder ähnlich klangen die Bruchstücke, die Yvonnes Gedächtnis in den Wachzustand hinüberrettete. An manchen Tagen stand da auch nur: »Nichts, gar nichts. Kann es sein, dass die ganze Nacht einfach nur dunkel war?« Léon bemühte sich redlich, Interesse zu entwickeln für die nächtlichen Seelengänge seiner Gattin, und anfangs unternahm er es auch, die Symbole und Metaphern, deren Bedeutung meist von bestürzender Offensichtlichkeit war, zu interpretieren und Rückschlüsse zu ziehen auf Yvonnes seelisches Wohlbefinden, den Zustand ihrer Ehe sowie auf das Bild, das sich Yvonne von ihm machte. Da er aber nie etwas wirklich Neues erfuhr, kam er mit der Zeit zum Schluss, dass Träume nichts weiter waren als Ausscheidungsprodukte des seelischen Stoffwechsels, die neugierig zu beäugen für ein sehr junges Mädchen eine Weile unterhaltsam sein mochte; dass aber seine Yvonne als erwachsene Frau sich derart obsessiv mit ihren Nachtgespinsten befassen konnte, befremdete ihn sehr.
Im Juli 1931 artikulierte der kleine Yves, der weit über seinen zweiten Geburtstag hinaus kein Wort über die Lippen gebracht hatte – und zwar wirklich kein Wort, noch nicht mal »Mama« oder »Papa«, weshalb der Hausarzt schon sorgenvoll die Stirn in Falten legte –, endlich laut und deutlich, mit lang gezogenen Vokalen und eindeutig pariserisch kehligem R das schöne Wort »Roquefort«.
In jenem Sommer war es zudem, dass die Weltwirtschaftskrise mit einiger Verspätung auch in Frankreich zu wüten begann und die Police Judiciaire auf ministeriellen Sparbefehl zwanzig Prozent ihres Personalbestands abbauen musste; Léon entging der Entlassung, weil er zwei Kinder zu versorgen hatte, und seine Frau, die ihre Verweigerung im Ehebett aus natürlicher Gutmütigkeit, Freude am Verzeihen und auch aus Eigennutz nicht lange hatte aufrechterhalten können, im dritten Monat schwanger war.
Im April 1932 kam der dritte Sohn zur Welt, der auf den Namen Robert getauft wurde, und als am zweiten Juliwochenende die großen Sommerferien begannen, ging in Cherbourg Léons Vater in Pension, nach exakt vierzig Jahren Schuldienst im selben Klassenzimmer, auf demselben Stuhl hinter demselben Lehrerpult. Zehn Tage später machte er seinem einsamen Witwerleben auf geradezu aggressiv rücksichtsvolle Weise ein Ende, indem er sich diskret einen Sarg in passender Größe beschaffte und diesen in seiner Stube aufstellte. Er streifte sich ein weißes Nachthemd über und nahm einen kräftigen Schluck Rizinusöl zu sich, und nachdem er sich auf der Toilette gründlich entleert hatte, schluckte er ausreichend Barbiturate und legte sich in den Sarg. Dann zog den er den Deckel über sich zu, schloss die Augen und faltete die Hände. Die Hausmeisterin fand ihn am nächsten Morgen. Auf dem Sarg lag ein an sie adressierter Zettel zusammen mit einem Fünffrancstück, das sie für den Schrecken entschädigen sollte, sowie ein notariell beglaubigtes Testament, das die Erbschaftsangelegenheiten regelte und alle Einzelheiten des bereits organisierten und bezahlten Begräbnisses aufführte.
Yvonne verbrachte wiederum den Sommer mit den Kindern in Cherbourg, um die Wohnung des Schwiegervaters als Ferienwohnung in Besitz zu nehmen und das Erbe anzutreten, das sich als recht ergiebig herausstellte; nach Abzug aller Kosten resultierte für Léon und Yvonne ein hübsches finanzielles Polster bei der Société Générale in der Höhe von einigen Monatslöhnen, das ihnen, weil sie klug damit wirtschafteten, quer durch die Jahrzehnte mit geringfügigen Schwankungen erhalten bleiben und auf bescheidenem Niveau ein finanziell sorgenfreies Leben ermöglichen sollte.
Kurz vor der Rückkehr nach Paris machte Yvonne während eines Strandspaziergangs die Bekanntschaft eines schwarzäugigen Schönlings namens Raoul, der keiner geregelten Arbeit nachging, sie nach wenigen Minuten um Geld anging und die Kühnheit hatte, sie abends, als die Kinder schliefen, in der fast leeren Wohnung des verstorbenen Schwiegervaters aufzusuchen. Sie schlief noch am selben Abend mit ihm, ebenso an den zwei Abenden danach und machte dabei Dinge, die sie im Ehebett mit ihrem Léon niemals getan hätte.
Auf der Heimfahrt nach Paris machte sie sich bittere Vorwürfe und fragte sich, ob sie den Ehebruch aus Rache für Léons Affäre mit der kleinen Louise begangen hatte oder aus weiblicher Eitelkeit und Furcht vor
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