Léon und Louise: Roman (German Edition)
schlammfressende Weichtiere sie aufnehmen, verdauen und aufs Neue dem Kreislauf des Lebens zuführen würden.
Geredet wurde wenig, die Vorgesetzten trieben zur Eile. Am Abend des zweiten Tages war Büro 205 leer, in der Nacht wurden die letzten Bestände aus den Kellern gehoben. Um halb neun am nächsten Morgen, genau achtundvierzig Stunden nach Beginn der Aktion, legten die Lastkähne ab und verschwanden flussaufwärts unter dem Pont Saint-Michel, um über Flüsse und Kanäle ins freie Südfrankreich zu fliehen.
Drei Tage später, am Freitag, dem 14. Juni – am Tag also, an dem Louise ihm ein Lebenszeichen schickte –, erwachte Léon wie üblich lang vor dem Morgengrauen. Er lauschte dem Ticken des Weckers und dem gleichmäßigen Atem seiner Frau, und als das Morgenlicht auf den gebleichten Leinenvorhängen von hellblau auf orange und rosa wechselte, stahl er sich aus dem Bett, schlich mit seinem Kleiderbündel hinaus auf den Flur und machte dabei Lärm, weil ihm Kleingeld aus der Hose fiel. In der Küche zündete er das Gas an und setzte Wasser auf, dann rasierte und wusch er sich am Spülbecken. Als er vor der Tür den Aurore holen wollte, wunderte er sich, dass dieser nicht auf dem Schuhabstreifer lag. Das war noch nie vorgekommen.
Léon nahm ersatzweise die Zeitungen der letzten drei Tage von der Hutablage und kehrte zurück an den Küchentisch, schlug die erste Zeitung auf und las einen Artikel über Schafzucht auf den Äußeren Hebriden, den er am Vortag übersprungen hatte. Kurz vor sieben Uhr strich er wie gewohnt zehn Butterbrote für die ganze Familie. Als Erster tauchte mit vom Schlaf verklebten Augen sein ältester Sohn Michel auf, der nun ein Gymnasiast von sechzehn Jahren war. Während Léon zwei Tassen Kaffee einschenkte, wankte der zweitgeborene Yves zur Toilette.
Léon stellte einen Topf mit Milch zum Wärmen auf den Herd. Als wenig später Yvonne in die Küche kam mit der vierjährigen Muriel auf dem Arm und dem achtjährigen Robert an der Hand, wurde es ihm zwischen Kochherd und Spülbecken zu eng. Er küsste seine Frau auf den Mundwinkel und die Kleinen auf den Scheitel, dann verzog er sich mit seiner zweiten Tasse Kaffee zum Lesesessel am Wohnzimmerfenster, von dem aus er einen schönen Blick hinunter auf die Rue des Écoles und hinüber zur École Polytechnique hatte.
Kaum hatte er sich hingesetzt, fiel ihm im kleinen Park gegenüber ein Soldat ins Auge, der breitbeinig auf einer Bank saß, in die Morgensonne blinzelte und einen Apfel und ein großes Stück Brot aß. Die Stiefel hatte er weit von sich gestreckt, sein Helm lag neben ihm auf der Bank, das Gewehr hatte er mit dem Kolben nach unten auf den Kiesweg gestellt. An seinem Hals hing ein würfelförmiger Fotoapparat, am Gürtel eine absurd große Pistolentasche.
»Yvonne!«, rief Léon, während er sich hinter die Gardine zurückzog, damit er von außen nicht mehr gesehen werden konnte. »Komm bitte her und schau dir das an.«
»Was denn?«
»Den Soldaten dort drüben.«
»Sonderbar.«
»Bleib nicht am Fenster stehen.«
»Woher der wohl den Apfel hat?«
»Was ist mit dem Apfel?«
»Um die Jahreszeit findet man in ganz Paris keine Äpfel mehr. Die neue Ernte kommt erst Ende Juli.«
»Ich meine den Helm und die Uniform.«
»Schau, jetzt nimmt er einen zweiten Apfel hervor. Und verfüttert Brot an die Tauben. Womöglich richtiges Brot aus Weizenmehl.«
»Die Uniform, Yvonne.«
»Wir fressen Sägemehlpappe, die man kaum als Brot bezeichnen kann, und der Kerl verfüttert gutes Brot an die Tauben. Und wenn wir Fleisch wollen, müssen wir Jagd auf die Eichhörnchen im Jardin du Luxembourg machen.«
»Die Eichhörnchen sind schon ausgerottet, habe ich gehört.«
»Umso besser.«
»Vergiss die Äpfel und die Eichhörnchen, Yvonne. Schau dir die Uniform an.«
»Was ist damit?«
»Die ist grau. Unsere sind khakibraun.«
»Das – das ist doch unmöglich.«
»Ich laufe zur Bäckerei und schaue mich um.«
Die zwei nächstgelegenen Bäckereien waren geschlossen, aber nach einem Rundgang durchs Quartier Latin wusste Léon Bescheid. Tatsächlich war die Wehrmacht in jener Frühsommernacht auf Zehenspitzen nach Paris geschlichen. Kein Schuss war gefallen, kein Befehl gebrüllt worden, keine Bombe explodiert. Im Morgengrauen waren die Deutschen einfach da gewesen wie ein alljährlich wiederkehrendes jahreszeitliches Ereignis, wie die Schwalben etwa, die im Mai aus Afrika einfliegen, oder wie der Beaujolais Nouveau, mit dem
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