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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Journalisten, Künstler und Gelehrten, die sich zum Wohle der Humanität und im Interesse der Zukunft ebenfalls verpflichtet fühlten, mit allen Mitteln und in allerhöchster Priorität ihre eigene Haut zu retten.
    Mit ihnen flohen Frauen, Kinder und Greise zu Hunderttausenden südwärts, in überfüllten Zügen und auf verstopften Straßen, zu Fuß und auf Fahrrädern, im Taxi und in Autos, die mangels Treibstoff von Ochsengespannen gezogen wurden, Stoßstange an Stoßstange mit Matratzen, Fahrrädern und Ledersesseln auf den Dächern, auf Pferdefuhrwerken, Lastwagenbrücken und Schubkarren, auf denen sich das Inventar ganzer Handwerkerbuden, Krämerläden und Haushaltungen türmte.
    Nach drei Wochen versiegte der Flüchtlingsstrom, Paris war zu zwei Dritteln entvölkert. Zurückgeblieben waren die Reichsten der Reichen und die Ärmsten der Armen sowie jene, denen Fahnenflucht aus beruflichen Gründen von Gesetzes wegen verboten war: Die Angestellten der Krankenhäuser und der Finanz- und Steuerverwaltung, die Beamten von Post, Telegrafenamt und Métro, das Personal der Elektrizitäts- und Gaswerke sowie der Feuerwehr und die zwanzigtausend Polizeibeamten.
    So ging Léon weiter Tag für Tag ins Labor, als ob nichts wäre, während die Zeitungen den Rückzug nach Dünkirchen vermeldeten, den Zusammenbruch des Eisenbahnverkehrs, die Kapitulation der belgischen Regierung. Aus dem Kommissariat wurde ihm dieselbe Arbeit zugeführt wie zu Friedenszeiten – mit Blausäure versetzte Mandeltorte, Champagner mit Rattengift, Knollenblätterpilz im Steinpilzrisotto. Zu seiner Verwunderung gab es, obwohl Paris zu zwei Dritteln entvölkert war, nicht etwa weniger Verdachtsfälle auf Gift, sondern erheblich mehr; wie es schien, war in den Stunden von Chaos und Massenpanik manche Giftmischerin zur Tat geschritten, der es in stabileren Zeiten am erforderlichen Mut gefehlt hatte.
    Am Montag, dem 10. Juni 1940, aber wurde die berufliche Routine meines Großvaters abrupt unterbrochen. Als er wie gewohnt um Viertel nach acht zur Arbeit erschien, war der Quai des Orfèvres schwarz von Beamten der Police Judiciaire ; uniformierte Gendarmen, zivile Inspektoren, Polizeichemiker, Gerichtsmediziner und Büroangestellte standen missmutig in der Morgensonne auf dem Kopfsteinpflaster und rauchten, steckten in kleinen Gruppen die Köpfe zusammen oder lasen Zeitung im Schatten von Hauseingängen oder Vordächern. Die Türen waren verschlossen, im Innern des Gebäudes brannte Licht.
    »Was ist los, wieso geht keiner rein?«, fragte Léon einen jungen Kollegen, den er vom Kaffeetrinken flüchtig kannte.
    »Keine Ahnung. Angeblich soll Büro 205 geräumt werden.«
    »Das Ministerium der Schande?«
    »Scheint so.«
    »Wird es geschlossen?«
    »Nein, nur das Archiv wird evakuiert.«
    »Die ganzen Ausländerkarteien?«
    »Wird ein schönes Stück Arbeit. Da sollen wir mit anpacken.«
    »Dann packt ihr mal an. Ich habe im Labor eine Menge zu tun.«
    »Deine Arbeit fällt heute wohl aus. Notbefehl. Sämtliche Abteilungen sind vom ordentlichen Dienst suspendiert und müssen mit anpacken.«
    »Auch gut. Immerhin überlassen wir das Archiv nicht den Nazis. Ein Akt der Menschlichkeit.«
    »Menschlichkeit, am Arsch!«, sagte der junge Kollege und schnippte seinen Zigarettenstummel in die Seine. »Die wollen nur ihre Kartei in Sicherheit bringen, das ist alles.«
    »Vor den Nazis?«
    »Weil sie Angst haben, dass die Deutschen die schöne Ordnung in Büro 205 durcheinanderbringen könnten. Wo die doch nicht mal Französisch können.«
    »Sag bloß.«
    »Ja.«
    »Da kannst du mal sehen.«
    »Büro 205 ist noch ordnungsliebender als die Deutschen.«
     
    Der Service des Etrangers in Büro 205, die Abteilung zur Kontrolle von Ausländern und Flüchtlingen, hatte weit über die Landesgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt als das Ministerium der Schande. Sie bestand aus einer Hundertschaft kleiner Beamter, deren ausschließliche Aufgabe es war, sämtliche Flüchtlinge und Vertriebenen, die im Land der Menschenrechte Zuflucht suchten, zu bespitzeln, zu kontrollieren und zu drangsalieren und ihnen den Weg zur dauerhaften Aufenthaltsbewilligung möglichst schwer zu machen. Ins Leben gerufen mit edlen Motiven als Hilfsorganisation für das menschliche Strandgut des Ersten Weltkriegs, war der Service des Etrangers im Herzen der Police Judiciaire scheinbar selbsttätig und ohne jemandes Zutun über die Jahre herangewachsen zu einem Moloch, der sich vom Blut derer nährte,

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