Léon und Louise: Roman (German Edition)
die Wirte im Herbst die Touristen übers Ohr hauen, oder wie der neue Roman von Georges Simenon.
Sie hatten sich ganz selbstverständlich eingefügt ins Straßenbild der leer gefegten Stadt und standen nun mit ihren Stahlhelmen und ihren Mauser-Pistolen wie die Touristen Schlange vor dem Eiffelturm, saßen in der Métro und lasen Baedeker-Reiseführer, und um ihre Hälse hingen Agfa-Fotoapparate in braunen Lederetuis, und sie stellten sich einzeln und in Gruppen vor der Notre-Dame und der Sacré-Cœur auf, um einander in die Kameras zu grinsen.
Kampferprobte Panzersoldaten halfen älteren Damen galant beim Einsteigen in den Bus, bierselige Infanteristen aßen Steak Frites in den Straßenrestaurants, lobten den Koch und gaben den Kellnern, während sie ihre Koppel lockerten, großzügig Trinkgeld. Schneidige Luftwaffenoffiziere, denen man genausogut Tomatensaft hätte vorsetzen können, tranken die letzten Bestände Chateauneuf-du-Pape leer, und viele sprachen, weil sie Österreicher waren, erstaunlich gut Französisch. Unangenehm fiel die Besatzungsmacht nur dadurch auf, dass sie ausgerechnet auf den Champs-Élysées jeden Mittag pünktlich um halb eins eine große Truppenparade abhalten musste.
»Sie sind überall«, flüsterte Léon zu Yvonne, als er mit zwei Baguettes zurückkehrte. Er wandte den Kindern, um sie nicht zu beunruhigen, den Rücken zu. »Zwei sitzen vorn an der Place Champollion im Auto, an der Rue Valette trinkt einer Kaffee auf der Terrasse. Am Panthéon und an der Sorbonne hängen riesige Hakenkreuzfahnen. Auf dem Rückweg bin ich an einer Ecke sogar mit einem zusammengestoßen, so richtig Schulter an Schulter, und weißt du was? Der Kerl hat sich entschuldigt. Auf Französisch.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Yvonne.
Léon zuckte mit den Schultern. »Ich muss ins Labor, die Kinder gehen zur Schule.«
»Du gehst zur Arbeit?«
»Ich muss zum Dienst, Yvonne. Das haben wir doch besprochen.«
»Wir könnten fliehen.«
»Wohin, nach Cherbourg? Erstens werden die Deutschen bald überall sein, falls sie es nicht schon sind, und zweitens würde mich die Polizei sofort verhaften – die französische Polizei übrigens, nicht mal die deutsche. Und drittens würdest du, wenn ich erst mal im Gefängnis wäre, mit den Kleinen binnen eines Monats auf der Straße sitzen und hungern.«
»Wir könnten uns hier in der Wohnung verstecken.«
»Unter dem Sofa?«
»Léon …«
»Was?«
»Lass uns nochmal drüber nachdenken.«
»Worüber willst du nachdenken? Es gibt nichts nachzudenken. Nachdenken kann man nur, wenn man Informationen hat. Wir aber wissen nichts. Wir sehen nichts, wir hören nichts, wir haben keine Ahnung, was los ist. Wir wissen nicht, was gestern geschehen ist, und noch viel weniger können wir wissen, was morgen passieren wird.«
»Ein bisschen was sehen wir schon«, sagte Yvonne und deutete aus dem Fenster.
»Was, den Soldaten? Einen Wehrmachtsoldaten, der zwei Äpfel hintereinander isst und die Sonne genießt? Na gut. Was können wir daraus lernen?«
»Dass die Deutschen hier sind.«
»Jawohl. Und weiter können wir vermuten, dass der Kerl Dünnschiss bekommt, wenn er noch einen dritten Apfel isst. Aber darüber hinaus sagt uns das gar nichts. Wir wissen nicht, wie zahlreich sie sind und was sie vorhaben, ob sie bleiben oder weiterziehen, ob die Briten uns doch noch zu Hilfe kommen oder im Gegenteil die Deutschen schon in England gelandet sind, ob Paris dem Erdboden gleichgemacht oder verschont wird – wir wissen nichts. Die Ereignisse übersteigen unseren Horizont, sie sind zu hoch für uns. Es hat keinen Zweck, zu überlegen und zu diskutieren.«
»Es könnte aber hier gefährlich werden. Für uns und die Kinder.«
»Das könnte es. Aber wenn wir blind irgendwo hinlaufen, ist das mit großer Wahrscheinlichkeit das Gefährlichste, was wir überhaupt tun können. Deshalb müssen die Kleinen jetzt die Zähne putzen und das Gesicht waschen. Ich gehe schon mal los, im Labor wartet viel Arbeit.«
In diesem Augenblick fuhr unten auf der Straße ein Lautsprecherwagen vorbei, welcher der Bevölkerung namens der deutschen Besatzungsbehörde kundtat, dass sie ab sofort aus Sicherheitsgründen für achtundvierzig Stunden in ihren Wohnungen zu bleiben habe und dass von nun an in Frankreich die deutsche Uhrzeit gelte, weshalb sämtliche Uhren um eine Stunde vorzustellen seien.
13. KAPITEL
Léon empfand es nicht als unangenehm, dass es frühmorgens, wenn seine innere Uhr ihn
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