Léon und Louise: Roman (German Edition)
dem Altwerden; denn aus Gründen purer Lust, das hätte sie spätestens nach dem ersten Mal wissen müssen, wäre es die Mühe nicht wert gewesen. Noch bei der Einfahrt in die Gare Saint-Lazaire war sie überzeugt, dass sie Léon alles würde beichten müssen; als er dann aber so arglos auf dem Bahnsteig stand mit seinen blauen Augen und seinem von zweimonatigem Strohwitwertum zerknitterten Anzug, brachte sie es nicht über sich, sondern stürzte auf ihn zu und rettete sich in eine Umarmung, deren Länge und Innigkeit Léon hätte stutzig machen müssen. Es sollte fast dreißig Jahre dauern, bis sie, den Tod vor Augen, ihm ihren Fehltritt, welcher der einzige bleiben sollte, gestand.
Im Mai 1936 gewann der Front Populaire die Wahlen, Léon erhielt erstmals bezahlte Ferien. Er fuhr mit den Buben und mit Yvonne, die kurz zuvor von einem Mädchen namens Muriel entbunden worden war, für zwei Wochen nach Cherbourg, wo er zwar die Freunde seiner Jugend nicht mehr wiederfand, hingegen eine Segeljolle mietete und mit seiner Familie Ausflüge zu den Kanalinseln unternahm; Yvonne war während der ganzen zwei Wochen in heimlicher Sorge, dass irgendwann der schöne Raoul auftauchen könnte, und atmete erst auf, als sie wieder im Zug nach Paris saßen.
Eines Abends im April 1937 herrschte große Aufregung in der Rue des Écoles. Es war früher Abend kurz vor der Essenszeit, als Madame Rossetos schreiend durchs Haus rannte auf der Suche nach ihren zwei Töchtern, die vierzehn- und siebzehnjährig spurlos verschwunden waren unter Mitnahme ihrer Bettwäsche, ihrer Kleider und der Ersparnisse der Mutter, welche diese seit vielen Jahren in einer Zuckerdose im Küchenschrank verwahrt hatte.
Im Januar 1938 wurde Léon Le Gall zum stellvertretenden Laborleiter des Wissenschaftlichen Dienstes der Police Judiciaire ernannt, und am 1. September 1939, am Tag, an dem Deutschland Polen überfiel, musste er sich in der Salpêtrière einer Hämorrhoidenoperation unterziehen.
Der Tag, an dem ihm Louise erstmals wieder ein Lebenszeichen schicken sollte, begann als einer der bizarrsten Tage in der Geschichte Frankreichs. Es war Freitag, der 14. Juni 1940. Jener erste Frühling nach Ausbruch des Krieges, der sich in Paris bisher erst wenig bemerkbar gemacht hatte, war von nie dagewesener Schönheit und Lebenslust gewesen. Den ganzen Monat April hatten die Frauen, während im Osten schon wieder Hunderttausende von jungen Männern verreckten, unter tiefblauem Himmel kurze geblümte Röcke getragen und das Haar frei über den Rücken fallen lassen, und die Straßencafés waren bis spät in die Nacht voll besetzt gewesen, weil die Boulevards glühten von der Wärme gespeicherten Sonnenlichts, als verberge sich unter dem Kopfsteinpflaster ein gigantisches warmblütiges Wesen mit unspürbar sanfter Atmung.
Aus den Lautsprechern der Radios sang Lucienne Delyle sehnsüchtig ihre Sérénade sans Espoir , in denGaleries Lafayetteund in der Samaritaine riss sich die Kundschaft um weiße Leinenanzüge und Strandpyjamas; überall in der Luft hing der betörende Duft teurer Parfums aus winzigen Flacons, und bei Anbruch der Dunkelheit verschmolzen in den Parks die Schatten der Liebenden mit den Schatten blühender Platanen und Kastanienbäume. Gewiss gingen die Gedanken hin und wieder zwischen zwei Küssen oder zwei Gläsern zu der Schlächterei im Osten; aber hätte man deswegen nur ein Glas weniger trinken, einen Kuss weniger verschenken, einen Tanz weniger tanzen sollen? Wäre damit irgendwem geholfen gewesen?
Der süße Traum dieses Frühlings nahm ein abruptes Ende, als sich herausstellte, dass die Maginot-Linie die Hunnen diesmal nicht würde aufhalten können. Nach dem 10. Mai flohen die Belgier und Luxemburger zu Zehntausenden vor den stählernen Riesenlibellen der Luftwaffe und den Sauriern der deutschen Panzerbrigaden, die in grauenhaftem Tempo und mit ohrenbetäubendem Kreischen wie prähistorische Plagen übers Land herfielen und ihr bleiernes Gift über die Flüchtlingsströme verspritzten; als die Panzerkolonnen auch bei Sedan die Sperren durchbrachen, setzte in Paris ein allgemeines Rette-sich-wer-kann ein, das angeführt wurde von der Regierung und ihren Generälen und Ministern und den Industriellen, die sich mit den Löhnen der Arbeiter davonmachten, gefolgt von den Parlamentariern und Beamten und Speichelleckern, den Diplomaten und Geschäftsleuten und Arschkriechern sowie den Trümmern der Armee, dann auch der schönen Welt der
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