Léon und Louise: Roman (German Edition)
wäre schmerzhaft für uns alle gewesen, und ich hätte es Dir übel genommen, wenn Du nicht hättest an Dich halten können; andrerseits habe ich mich manches Mal gefragt, ob ich Dir nicht auch ein wenig böse sein sollte, dass Du Dich so glatt und schlank und ohne Verfehlung an die von mir befohlene Funkstille gehalten hast.
Ich bin übrigens nicht so brav gewesen wie Du. Vom kleinen Park bei der École Polytechnique aus hat man einen schönen Blick in Dein Wohnzimmer, weißt Du das? Vierzehnmal in den letzten zwölf Jahren habe ich es mir gestattet, nachts dort zu stehen und in Deine erleuchteten Fenster zu schauen wie ins Innere einer Puppenstube; das erste Mal gleich am Abend nach unserem gemeinsamen Ausflug, das zweite Mal am Sonntag darauf und dann in unregelmäßigen Abständen etwa einmal pro Jahr. Es war immer im Winter, weil ich den Schutz der Dunkelheit brauchte, ich weiß die Daten auswendig; die letzten acht Male hatte ich ein Fernglas dabei.
Ein wenig albern fühlte es sich schon an, so hinter einem Baumstamm versteckt, Detektiv zu spielen, aber dank der Gläser habe ich alles sehen können: die Soldatenspiele Deiner drei Buben in der Stube, die Zahnlücken Deiner kleinen Muriel, einmal sogar die schönen Brüste Deiner Frau; dann auch die neue Bücherwand und dass Du jetzt eine Brille trägst, wenn Du an Deinem komischen Zeug bastelst. Du und Dein komisches Zeug, Léon! Ich glaube, ich habe mich damals auch ein wenig deswegen in Dich verliebt. Eine rostige Mistgabel, ein morsches Fensterkreuz und ein halbvoller Kanister Petroleum … das muss Dir erst mal einer nachmachen.
Übrigens habe ich immer nur für eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten hinter meinem Baum gestanden, mehr war nicht möglich; irgendwie schien sich jedes Mal die Nachricht, dass eine Frau allein in einem dunklen Park steht, in Windeseile bei allen Einsamen und Wüstlingen des Quartier Latin herumzusprechen. Einmal musste ich einem Gendarmen erklären, was ich zu nachtschlafender Stunde mit einem Fernglas im Park verloren hätte; ich habe mich auf die Ornithologie herausgeredet und irgendeinen Quatsch darüber erzählt, dass die Spatzen im Winter nachts in den Bäumen dicht beisammen schlafen, um einander warm zu halten, und dass immer abwechslungsweise einer Wache hält.
Jedenfalls war es schön, Dich im Kreis der Familie zu sehen. Es war jedes Mal ein Ausflug in eine andere Dimension, ein Blick in ein paralleles Universum oder in das Leben, das ich vielleicht geführt hätte, wenn damals nicht jener Bombentrichter auf der Straße gewesen wäre oder der Bürgermeister von Saint-Luc sich nicht in meinen unvergleichlich eleganten Schwanenhals vergafft hätte; Deine Familie ist für mich die fleischgewordene Möglichkeitsform, ein dreidimensionaler Konjunktiv Irrealis, ein säkulares Krippenspiel, eine lebendige, lebensgroße Puppenstube – die den einzigen Nachteil hat, dass ich nicht mit ihr spielen darf.
Versteh mich nicht falsch, ich bin mit meinem Leben zufrieden und suche kein anderes; auch wüsste ich nicht zu sagen, wofür ich mich entscheiden würde, wenn ich die Wahl zwischen Indikativ und Konjunktiv hätte. Und sowieso erübrigt sich die Frage, weil diese Wahl niemand hat.
Du hast eine schöne Familie und bist ein schöner Mann, Léon, das Altern steht Dir gut. Deine Ernsthaftigkeit hätte man früher, als Du noch jünger warst, vielleicht ein bisschen fad finden können, aber jetzt schmückt sie Dich ausgezeichnet. Hast Du ein wenig mit dem Trinken angefangen? Es scheint mir, als hättest Du meist ein Glas Ricard in der Hand. Oder ist’s Pernod? Dazu, dass Du seit letztem Winter Pfeife rauchst, will ich nichts sagen. Ein bisschen gar alt macht Dich das schon. Wenn Du mein Mann wärst, würde ich es Dir verbieten, zumindest in der Wohnung. Ich rauche übrigens immer noch Turmac; mal sehen, ob es die da, wo ich hinfahre, auch zu kaufen gibt. Wenn nicht, wirst Du mir welche schicken müssen.
Es ist sonderbar: Erst jetzt, da uns so vieles trennen wird – ein Ozean, ein Krieg, vielleicht ein Erdteil oder zwei, nicht zu vergessen die Jahre, die schon vergangen sind und noch vergehen werden –, kann ich Dir wieder nahe sein. Erst jetzt, da ein paar tausend Kilometer Distanz uns vor Heimlichkeiten, Lügen und Niedertracht bewahren und wir einander mit großer Sicherheit lange Zeit nicht sehen werden, erst jetzt fühle ich mich Dir wieder ganz nah. Nur weit weg von Dir bin ich ganz bei mir, nur fern von Dir kann
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