Léon und Louise: Roman (German Edition)
Centimes von Ihnen bekommen?«
»Jetzt reicht’s aber, was erlauben Sie sich!« Léon fühlte sich in seiner zuverlässigen Gutmütigkeit verhöhnt und wandte sich zum Gehen.
»Monsieur Le Gall, bitte nur noch eine Sekunde! Ich bin mir meiner Unverschämtheit bewusst, aber die Not zwingt mich dazu.«
»Was ist denn los, Mann, nun sprechen Sie schon.«
»Na ja, die Nazis sind doch jetzt hier.«
»Das habe ich gesehen.«
»Dann haben Sie bestimmt auch erfahren, was die mit unsereinem in Deutschland gemacht haben.«
Léon nickte.
»Sehen Sie, Monsieur Le Gall, deswegen muss ich fort und kann nicht bleiben.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Zum Busbahnhof Jaurès, da fahren Busse nach Marseille und Bordeaux.«
»Und?«
»Falls Sie mir ein Darlehen geben wollten auf die Münzen, die Sie mir in nächster Zeit geben würden …«
»Das ist ja … wie lange werden Sie denn wegbleiben?«
»Wer weiß? Ich fürchte, der Krieg wird lange dauern. Drei Jahre, vielleicht vier.«
»Und für die ganze Zeit willst du deine täglichen fünfzig Centimes?«
Der Clochard lächelte und hob, um Nachsicht bittend, die Schultern.
»Vier Jahre zu zweihundert Arbeitstagen, das gibt achthundertmal fünfzig Centimes.«
»Ganz wie Sie sagen, Monsieur Le Gall. Natürlich würde mir auch schon eine wesentlich kleinere Summe aus der Patsche helfen.«
Léon rieb sich den Nacken, schürzte die Lippen und betrachtete ausgiebig seine Schuhspitzen. Dann sprach er wie zu sich selbst: »Wenn ich es mir so überlege, sehe ich keinen Grund, dir nichts zu geben.«
»Monsieur …«
Der Clochard hatte abwartend den Blick niedergeschlagen und knetete demütig seine Mütze. Léon nahm ebenfalls den Hut ab und schaute nach links und nach rechts, als ob er auf jemanden wartete, der ihm in dieser Sache raten konnte. Schließlich setzte er den Hut wieder auf und sagte:
»Schau zu, dass du morgen kurz vor Mittag hier bist. Dann bringe ich dir das Geld.«
»Ich danke Ihnen, Monsieur Le Gall. Und Sie selbst? Was werden Sie tun?«
»Wir werden sehen, fahr du nur schon mal nach Jaurès. Ich heiße übrigens Léon, so nennen mich meine Freunde – so nannten mich meine Freunde, als ich noch welche hatte. Und du?«
»Mein Name ist Martin.«
»Freut mich, Martin.«
Die zwei Männer schüttelten einander die Hand.
»Bis morgen dann, pass auf dich auf!«
»Du auch, Léon, bis morgen!«
Und dann – hinterher wusste keiner zu sagen, wie das hatte geschehen können – machten sie beide einen Schritt aufeinander zu und umarmten sich.
Beim Nachhausekommen staunte Léon, wie sehr sich Madame Rossetos’ Abwesenheit bereits bemerkbar machte. Vor der Haustür lagen Zigarettenstummel, Taubenfedern und Pferdekot, in der Eingangshalle stand ein stinkender Mülleimer. Fünf Gasflaschen versperrten den Weg ins Treppenhaus. Die Post des Tages lag, weil niemand mehr sie vor die Wohnungstüren verteilte und die meisten Mieter in den Süden geflohen waren, auf dem großen Heizkörper neben dem Hinterausgang, der in den Hof führte.
Im Hafen von Lorient,
an Bord des Hilfskreuzers
»Victor Schoelcher«
14. Juni 1940
Mein geliebter Léon!
Ich bin’s, Deine Louise, die Dir schreibt. Wunderst Du Dich? Ich wundere mich. Ich habe mich sehr über mich gewundert, wie dringend ich Dir schreiben wollte, kaum dass ich sicher wusste, dass ich Paris verlassen und für lange Zeit sehr weit wegbleiben würde. Seit einer Woche verbringe ich jede freie Minute damit, wirres Zeug für Dich aufzuschreiben; das hier ist die hoffentlich einigermaßen geordnete Reinschrift, die morgen oder übermorgen zur Post soll.
Es ist nicht so, dass ich die vergangenen zwölf Jahre unablässig an Dich gedacht hätte, weißt Du? Man kann schließlich nicht länger als ein paar Monate in diesem Zustand bleiben, irgendwann stößt man an seine Leistungsgrenze. Dann kommt ganz unerwartet jener Augenblick – beispielsweise bei der Mittagspause während des Verdauungsprozesses –, da man tief durchatmet und es dann mal gut sein lässt, und von da an lebt man so vor sich hin und hat so seine Freuden, geht samstags ins Kino und fährt sonntags übers Land und bestellt in diesem oder jenem Landgasthof eine Andouillette.
Wie ich seither lebe? Eine Weile hatte ich einen Kater namens Stalin, der aber auf dem vereisten Fenstersims ausglitt und vier Stockwerke tiefer von einer schmiedeeisernen Zaunspitze aufgespießt wurde; im Musée de l’Homme gibt es einen sehr jungen Mann mit dem
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