Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
Vom Netzwerk:
Gesichtsausdruck eines magenkranken Affen, der wie ein Sturzbach redet, mich für eine Dame hält und mir an kalten Wintertagen mit heißem Tee nachstellt. Gelegentlich schreibt er mir höfliche, niemals zu lange Liebesbriefe, und wenn mich Zweifel beschleichen am Sinn des Lebens, an meiner femininen Anziehungskraft oder an der gesamten Menschheit, geht er mit mir spazieren und füttert mich mit Schokolade.
    Ich lebe ganz gut, Du fehlst mir nicht, verstehst Du? Du bist nur eine der vielen Leerstellen, die ich durch mein Leben trage; schließlich bin ich auch nicht Autorennfahrerin oder Balletttänzerin geworden, kann nicht so gut zeichnen und singen, wie ich mir das gewünscht hatte, und werde niemals Tschechow auf Russisch lesen. Ich finde es längst nicht mehr allzu schlimm, dass sich im richtigen Leben nicht jeder Traum verwirklicht; das könnte ja sonst rasch ein bisschen viel werden.
    Man gewöhnt sich an seine Leerstellen und lebt mit ihnen, sie gehören zu einem, und man möchte sie nicht missen; wenn ich mich jemandem beschreiben müsste, so würde mir als Erstes einfallen, dass ich die russische Sprache nicht beherrsche und keine Pirouetten drehen kann. So werden die Leerstellen allmählich zu Wesensmerkmalen und füllen sich gleichsam mit sich selber auf. Auch Du, die Sehnsucht nach Dir – oder auch nur das Wissen um Dich – füllt mich noch immer aus.
    Wieso? Keine Ahnung. Man gewöhnt sich daran, es ist einfach so.
    Umso mehr habe ich mich gewundert, als ich im Taxi unterwegs zum Bahnhof Montparnasse plötzlich den dringenden Wunsch verspürte, Dir zu schreiben, und aufgeregt war wie ein Backfisch vor dem ersten Rendezvous. Und noch viel mehr habe ich mich gewundert, als ich auf dem Rücksitz leise Deinen Namen aussprach, während ich mich aufmachte, weit weg von Dir zu fahren. Eine dumme Gans habe ich mich gescholten und doch Briefpapier und Füllfederhalter hervorgenommen, und später auf der endlosen Zugfahrt in einem überfüllten und überhitzten Abteil hierher an den Hafen von Lorient habe ich aufzuschreiben versucht, was mir für Dich so eingefallen ist.
    Jetzt sitze ich auf der Bettkante meiner Kabine in brütender Hitze hinter sorgfältig verriegelter Tür mit dem Schreibblock auf den Knien und weiß noch immer nicht, was ich Dir sagen will. Oder doch: alles und nichts, nicht mehr und nicht weniger. Eines aber weiß ich: Abschicken werde ich diesen Brief erst im letzten Augenblick, wenn der Postbote von Bord geht und die Maschine unter Dampf steht, die Leinen losgemacht werden und ich sicher sein kann, dass wir in See stechen und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass man mich noch an Land und zurück nach Paris schafft.
    Wahrscheinlich stehst Du, wenn Du diese Zeilen liest, auf der Matte vor Deiner Wohnungstür und kratzt Dich an Deinem flachen Hinterkopf. Ich stelle mir vor, dass die Concierge Dir den Brief mit verschwörerischem Stirnrunzeln in die Hand gedrückt hat und dass Du auf der Treppe ungläubig den Absender liest und mit dem rechten Zeigefinger den Umschlag aufreißt. Gleich wird Yvonne im Türspalt auftauchen und fragen, ob Du nicht hineinkommen willst. Bestimmt beunruhigt es sie, wie Du so dastehst mit einem Umschlag in der Hand, vielleicht fürchtet sie eine Todesnachricht oder einen Marschbefehl oder dass man Dir die Wohnung oder die Stelle gekündigt hat. Also streckst Du ihr den Brief entgegen, und zwar wortlos, wie ich vermute, dann folgst Du ihr in den Flur und machst hinter Euch die Wohnungstür zu.
    (Hallo, Yvonne, ich bin’s, die kleine Louise aus Saint-Luc-sur-Marne, kein Grund zur Sorge. Ich schreibe von weit weg und absichtlich an die Rue des Écoles, um jede Geheimniskrämerei auszuschließen.)
    Weißt Du, Léon, ich bewundere Deine Frau für ihre diplomatische Klugheit, aber auch für den Mut, mit dem sie Dein diszipliniertes Wohlverhalten hinnimmt. Ich an ihrer Stelle hätte Dich, gewiss sehr zu meinem eigenen Schaden, längst zum Teufel gejagt; Deine Artigkeit hätte ich nicht lange ertragen.
    Denn wohlverhalten hast Du Dich in den vergangenen zwölf Jahren tatsächlich, das muss man Dir lassen. Du hast mir nie aufgelauert und mir nie nachzustellen versucht, hast nie mit der Banque de France telefoniert und mir keine kleinen Briefchen ins Büro geschickt; dabei hast Du doch genauso gelitten wie ich, das weiß ich bestimmt.
    Natürlich wäre es kindisch gewesen, im Veborgenen all die kleinen Rituale der Verliebten durchzuspielen, es hätte nichts geholfen und

Weitere Kostenlose Bücher