Léon und Louise: Roman (German Edition)
Bahnhof waren alle Straßen verstopft von Flüchtlingen. So viele Menschen in heller Panik! Ich weiß gar nicht, wo die alle hinwollen. So viele Schiffe kann es gar nicht geben, dass die alle einen Platz finden, und so ferne Ufer, dass der Krieg sie nicht einholt. Der Bahnhof und sämtliche Züge waren überfüllt, und unterwegs nach Lorient ist unser Zug nur deshalb einigermaßen vorangekommen, weil er als Sondertransport der Banque de France auf dem gesamten Schienennetz erste Priorität hatte.
Während ich in meiner Kabine sitze und schreibe, entladen Soldaten unseren Güterzug. Du wirst es nicht glauben, in meinem Gepäck findet sich ein Großteil der Goldreserven der Französischen Nationalbank, darüber hinaus dreißig Tonnen der polnischen und zweihundert Tonnen der belgischen Nationalbank, die wir vor ein paar Monaten zur Aufbewahrung erhalten haben. Zwei- bis dreitausend Tonnen Gold insgesamt, würde ich schätzen; wir sollen alles vor den Deutschen in Sicherheit bringen.
Unser Schiff, die Victor Schoelcher , ist ein Bananendampfer, den die Kriegsmarine requiriert und zum Hilfskreuzer umfunktioniert hat. Für ein Kriegsschiff sieht er noch immer ziemlich karibisch aus mit viel grüner, gelber und roter Ölfarbe überall; das einzig Marinegraue ist eine alberne kleine Kanone vorne auf der Back. Meine Kabine befindet sich, weil ich die einzige Dame an Bord bin, vorn bei der Brücke gleich hinter jener des Kapitäns.
Es ist stickig heiß hier drin, als wären wir schon im Kongo oder in Gouadeloupe. An den lindgrün lackierten Stahlwänden kondensiert die Luftfeuchtigkeit, und auf dem roten Stahlboden sammeln sich die Rinnsale zu lila oszillierenden Pfützen. Aus dem Abfluss des Waschbeckens kriechen im Zehnsekundentakt außereuropäisch fette Kakerlaken, die ich mit meinem rechten Schuh totzuschlagen versuche, und die Beschreibung der Toilette, die ich mit dem Kapitän teile, erspare ich Dir. Wie ich höre, gibt es im Unterdeck eine zweite Toilette für die fünfundachtzig Mann Besatzung; gebe Gott, dass ich nie in die Lage gerate, mich dieser auch nur nähern zu müssen.
Diese Nacht noch, spätestens morgen früh sollen wir auslaufen, alle sind in größter Eile. Die deutschen Panzer sind angeblich schon in Rennes, vor ein paar Stunden sind Messerschmitts und Stukas über unsere Köpfe geflogen und haben Minen in die Hafenausfahrt abgeworfen, um uns am Auslaufen zu hindern. Der Kapitän will die Flut um vier Uhr dreißig abwarten und im Morgengrauen am äußersten Rand der Fahrrinne zwischen den Minen und den Schlammbänken hinaus aufs offene Meer gelangen.
Natürlich ist das alles hochgradig geheim, ich dürfte Dir nichts davon verraten; aber sag selbst, wen auf Gottes weitem Erdenrund kann es kümmern, was in einem Brief steht, den eine Tippmamsell einem kleinen Pariser Polizeibeamten schreibt? Was immer ich dir sage, ist mit großer Wahrscheinlichkeit heute schon falsch und deshalb unwichtig, und morgen wird es garantiert vorbei und vergessen und ohne jeden Belang sein. Kommt hinzu, dass von dem, was ich sehe, sowieso nichts geheim bleiben kann. Oder hältst Du es für möglich, die Existenz von zwölf Millionen Flüchtlingen zu verheimlichen? Können zweitausend Tonnen Gold unbeachtet bleiben? Können Messerschmitts und Stukas, die mit ohrenzerfetzendem Geheul vom Himmel stürzen, ein Geheimnis sein? Was soll die Geheimniskrämerei, wenn jeder alles sieht und keiner etwas versteht? Die Glocke ruft zum Essen, ich muss rennen!
Unterdessen ist die Nacht hereingebrochen. Ich habe in der Offiziersmesse mit dem Kapitän, den Offizieren und meinen drei Vorgesetzten von der Bank einen Happen gegessen. Es gab Meerbarsch und Bratkartoffeln, die Unterhaltung drehte sich um die Truppenstärke der Wehrmacht, die sich anscheinend in großer Eile auf uns zubewegt und spätestens morgen Nachmittag hier erwartet wird; zudem habe ich erfahren, dass der Namenspatron der Victor Schoelcher jener Mann ist, der 1848 die Sklaverei in Frankreich und in den französischen Kolonien abgeschafft hat. Ist das nicht hübsch? Beim Kaffee haben mir die Herren dann freundlicherweise ein wenig den Hof gemacht, wenn auch für meinen Geschmack etwas zu routiniert und gelangweilt und ohne rechten Elan.
Danach bin ich in die Stadt gegangen, um Notvorrat für die große Fahrt zu besorgen; man weiß ja nie, was einem bevorsteht. Ich musste eine ganze Weile laufen durch dunkle Straßen mit blau gestrichenen Straßenlampen und schwarz
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