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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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und scharfen Putzmitteln, an einem Haken hinter der Tür hing Madame Rossetos’ ewige Schürze. Auf dem erkalteten Kohleofen lag ein Schlüsselbund mit vielen Schlüsseln, daneben ein Zettel:
     
    Allenfalls eingehende Post bitte ungelesen vernichten, ich zähle auf Ihre Diskretion. Ihr könnt mich jetzt endlich alle am Arsch lecken, Ihr aufgeblasenen Korinthenkacker und Sesselfurzer. Wollen Sie bitte, Madame, Monsieur, die Versicherung meiner uneingeschränkten Hochachtung entgegennehmen.
     
Josianne Rossetos,
Concierge im Wohnhaus 14 , Rue des Écoles
vom 23 . Oktober 1917 bis zum 16 . Juni 1940
um sechs Uhr morgens.
     
    Am Quai des Orfèvres hingen keine Hakenkreuzfahnen, in den Fluren lümmelten keine SS-Männer. Im Labor herrschte die übliche, arbeitsame Stille, und die Kollegen waren vollzählig an der Arbeit.
    Zu Léons Erstaunen war der Kühlraum überfüllt mit Gewebeproben, was in seinen vierzehn Dienstjahren noch nie vorgekommen war; als er einen Kollegen darauf ansprach, zuckte dieser mit den Schultern und wies darauf hin, dass man zusätzlich in einem Kleiderschrank einen improvisierten Kühlraum habe einrichten müssen, der ebenfalls schon überfüllt sei.
    Die Sache war die, dass die Pariser Amtsärzte in den zwei Tagen seit dem deutschen Einmarsch bei dreihundertvierundachtzig Todesfällen Anzeichen von Vergiftung ohne Fremdeinwirkung festgestellt hatten; all diesen Toten, von denen zu vermuten stand, dass sie aus eigenem Antrieb vom Tisch des Lebens aufgestanden waren, um dem bitteren Nachtisch von Demütigung, Erniedrigung und Qual zu entgehen, hatten die Ärzte ein hühnereigroßes Stück Fleisch aus der Leber geschnitten und dieses in einem Konservierungsglas dem Wissenschaftlichen Dienst der Police Judiciaire geschickt. Léon Le Gall und seine Kollegen sollten drei Wochen damit beschäftigt sein, diesen Pendenzenberg aus menschlichem Gewebe abzutragen und dreihundertzwölfmal Zyankali, dreiundzwanzigmal Strichnin, achtunddreißigmal Rattengift und dreimal Curare nachzuweisen; nur bei einer Probe blieb bis zuletzt rätselhaft, womit sich der Verzweifelte ums Leben gebracht hatte, und keine einzige ergab ein negatives Resultat.
    Nach einem arbeitsreichen, aber ereignislosen Tag im Labor machte Léon sich auf den Heimweg. Auf den Straßen fuhren ungewöhnlich wenig Autos, als ob es ein Sonntag und kein Werktag wäre, auf den Trottoirs war der Strom der heimkehrenden Männer weniger dicht als üblich, und die Omnibusse waren halbleer; die Bouqinisten hatten ihre Kästen verschlossen, vor den Cafés waren Stühle und Tische weggeräumt und die Gitter heruntergelassen; die Buchhändler und die Flaneure, die Wirte, Kellner und Gäste – alle waren verschwunden; hingegen waren weit und breit keine Straßensperren, keine Panzer und keine Maschinengewehre zu sehen, das Leben schien seinen althergebrachten, gut französischen Lauf zu nehmen – mit dem kleinen Unterschied, dass auf den Parkbänken und in den Ausflugsbooten nun deutsche Soldaten saßen.
    Das hölzerne, eisenbeschlagene Tor zum Musée Cluny war ebenfalls versperrt. Auf der Schwelle saß wie üblich Léons persönlicher Clochard, dem er am Morgen schon die gewohnte Münze in den Hut gelegt hatte. Léon hob grüßend die Hand und wollte vorbeilaufen, da rief der Clochard: »Monsieur Le Gall! Bitte sehr, Monsieur Le Gall!«
    Léon wunderte sich. Es war unüblich und gegen die Spielregeln, dass der Mann seinen Namen kannte; dass er ihn ansprach und ihm auch noch hinterherrief, war geradezu ungehörig. Unwillig machte er auf dem Absatz kehrt und trat auf ihn zu. Der Clochard rappelte sich auf und riss sich die Mütze vom Kopf.
    »Bitte verzeihen Sie die Belästigung, Monsieur Le Gall, es dauert nur eine Minute.«
    »Worum geht es?«
    »Ich bin unverschämt, aber in der Not …«
    »Ich habe Ihnen doch heute Morgen schon etwas gegeben, erinnern Sie sich?«
    »Das ist es ja gerade, Monsieur, deshalb bitte ich Sie um Nachsicht und erlaube mir, mich höflich bei Ihnen zu erkundigen …«
    »Was wollen Sie denn, sprechen Sie geradeheraus, wir wollen keine Zeit verlieren.«
    »Sie haben recht, Monsieur, die Zeit drängt. Kurzum, ich wollte Sie fragen: Werden Sie mir morgen früh auch wieder fünfzig Centimes geben?«
    »Was für eine Frage!«
    »Und übermorgen?«
    »Sie sind mir ja einer, Sie werden ja richtig keck! Sind Sie vielleicht besoffen?«
    »Und nächste Woche, Monsieur? Werde ich auch nächste Woche und in einem Monat täglich fünfzig

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