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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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verhängten Fenstern, bis ich einen Lebensmittelladen fand. Ich fragte den Händler ohne große Hoffnung nach Kondensmilch. Er wies auf ein gut gefülltes Regal und fragte, wie viele Dosen ich haben wollte. Zwölf Stück, sagte ich aus einer Laune heraus, und weißt Du was? Der Mann gab sie mir, ohne mit der Wimper zu zucken. Da nahm ich auch noch Schokolade, Brot und eine Wurst, und der Mann hat nicht mal nach Marken gefragt. Da kannst Du’s sehen, nichts gilt mehr, alles ist wahr, und keiner weiß, was morgen sein wird. Wozu also Geheimnisse?
     
    Jetzt sitze ich draußen auf der Gangway, wo eine kühle Abendbrise weht, und schaue auf den Pier hinunter, auf dem ein unübersichtliches Gewusel von Soldaten damit beschäftigt ist, schwere Holzkisten aufeinanderzustapeln. Jeweils vier Mann holen an den offenen Schiebetüren der Güterwagen eine Kiste und schleppen sie hinüber zum Lagerplatz. Ich bin gespannt, wie viele Kisten es sein werden. Gleich wird man mich rufen, dann muss ich hinunter zur Ladebrücke und meinen Nachtdienst antreten. Tippmamsell zählt Goldkisten. Die ganze Nacht werde ich an einem kleinen Tisch sitzen und für jede Kiste, die im Laderaum der Victor Schoelcher verschwindet, mit scharf gespitztem Bleistift einen Strich auf einem Formular machen, das ich persönlich zu diesem Zweck entworfen und angefertigt habe.
    Hinter dem Güterbahnhof auf der Umfassungsmauer sitzen Buben mit Schiebermützen und kurzen Hosen und schauen zu. Ihre Gesichter sind leer, sie rühren sich nicht – schwer zu sagen, ob sie ahnen, welche Reichtümer vor ihren Nasen liegen.
    Offiziell enthalten die Kisten Artilleriemunition, aber das glaubt hier keiner. In diesem Augenblick stehen hinter mir zwei Zigaretten rauchende Schiffsjungen, die voreinander prahlen, dass dies der größte Goldschatz sei, der je auf den Atlantischen Ozean hinausgefahren wurde. Vielleicht haben sie sogar recht; ich kann mir nicht vorstellen, dass die alten Spanier jemals zweitausend Tonnen Gold auf einem Haufen liegen hatten. Und falls doch, hätten sie mit ihren Holzschiffchen ein paar Dutzend Mal hin- und herfahren müssen, um das alles über den Ozean zu transportieren.
    Das Radio in der Offiziersmesse dudelt Radiomusik, Nachrichten gibt es keine mehr. Einzig der Funker kann BBC hören. Er heißt Galiani und rollt das R, dass man Lust auf Bouillabaisse bekommt, und er hat dichtes schwarzes Körperhaar, das ihm überall aus der Uniform quillt. In seiner Freizeit genießt er es, übers Deck zu stolzieren als bestinformierter Mann an Bord. Er schlendert hinter meinem Rücken vorbei und sagt: »Schon gehörrrt, Mademoiselle? Norrrrwegen hat kapituliert.« Dann verzieht er das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, schiebt seine Gauloise in den rechten Mundwinkel und spuckt durch den freien Mundwinkel aus. Auf diese Weise hat er mich in den letzten Tagen zuverlässig über den Lauf der Weltgeschichte auf dem Laufenden gehalten. »Schon gehörrt? Hitlerrr bombarrdierrt London.« Und ausspucken. »Schon gehörrt? Die Wehrrrmacht ist in Parris einmarrschierrt.« Und ausspucken. »Schon gehörrt? Rrroosevelt will neutrral bleiben.« Und ausspucken. Und jedes Mal macht er seine angewiderte Grimasse und erwartet von mir Bewunderung, die ich ihm in überreichem Maß zuteil werden lasse. Und weil er zwar ein Aufschneider, aber auch ein feinfühliger Südländer ist, durchschaut er mich jedes Mal und geht beleidigt seines Wegs.
    Man ruft mich zum Dienst, ich muss aufhören! Das ist vielleicht meine letzte freie Minute vor dem Abschied. Morgen früh übergebe ich diesen Brief dem Boten, und dann geht’s los. Sonderbar, mir ist gegen alle Vernunft ganz weit und klar ums Herz. Gerade weil ich keine Ahnung habe, wohin dieses Schiff mich tragen wird, habe ich die trügerische Empfindung, dass mir die Welt offenstehe, was natürlich ein Irrtum ist; in Wahrheit ist mir die ganze Welt verschlossen mit Ausnahme jenes einen Schreibtischs da oder dort auf diesem oder jenem Kontinent, an den mich zu schicken die Banque de France beschlossen hat. Was auch immer kommen mag: Schlimmer als sterben kann’s nicht werden.
    Ich liebe Dich und bin in großer Sorge um Dich, mein Léon, das habe ich noch gar nicht gesagt; hoffentlich, hoffentlich tun Dir die Nazis nichts an. Pass auf Dich und die Deinen auf und halt Dich von allen Gefahren fern, sei vorsichtig und so glücklich als möglich, spiel nicht den Helden und bleib gesund und vergiss mich nicht!
     
    Für immer
    Deine

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