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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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hörte er aus dem Kinderzimmer ein leises Wimmern, wahrscheinlich von der kleinen Muriel, die unter Albträumen litt, seit sie in den Kohlekeller gesperrt worden war. Als Léon die Tür öffnete, schnarchte sie schon wieder ihr helles, rasches Kinderschnarchen. Er wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann betrachtete er reihum die Umrisse seiner Kinder unter ihren dünnen Sommerdecken.
    Der achtjährige Robert und der elfjährige Yves lagen in ihrem gemeinsamen Bett beim Fenster so weit als möglich auseinander und ließen beidseits Beine und Arme über die Bettkanten baumeln. Die kleine Muriel schlief in der Mitte ihres Bettchens auf dem Rücken mit weit von sich gestreckten Gliedmaßen in jener wehrlos-königlichen Haltung, die Kleinkindern und Betrunkenen eigen ist. Der sechzehnjährige Michel schlief nicht mehr im Kinderzimmer, sondern oben unter dem Dach. Er war an einem der ersten warmen Frühlingstage ins leerstehende Mansardenzimmer umgezogen, und zur Bekräftigung seiner Selbstständigkeit hatte er von seinem Taschengeld auf dem Flohmarkt einen gebrauchten Reisewecker gekauft. Yvonne hatte in der ersten Nacht, die der Erstgeborene für sich allein verbrachte, vor Trennungsschmerz geweint, und Léon hatte sich über die Tatsache gefreut, dass Michel den Wecker nicht neu, sondern auf dem Flohmarkt gekauft hatte.
    Übrigens hatten auch die Kleinen die Angewohnheit, alten Krempel nach Hause zu schleppen, den sie auf Müllhaufen und in Hinterhöfen fanden – rostige Hufeisen, exotisch bedruckte Jutesäcke, sonderbare Holz- oder Blechstücke, die mal ein Bestandteil von irgendetwas gewesen sein mochten. Léon bewunderte diese Schätze und stellte mit den Kindern Vermutungen an über ihren ursprünglichen Verwendungszweck, ihre Geschichte und ihre Vorbesitzer. Währenddessen stand Yvonne, die weniger empfänglich war für den Zauber nutzloser Dinge, mit Putzlappen und Javelwasser bereit und wartete auf eine Gelegenheit, die guten Stücke, wenn sie denn schon in der Wohnung bleiben mussten, wenigstens von Mikroben und anderen Krankheitserregern zu befreien.
    Léon freute sich, dass seine Kinder richtige Le Galls waren. Gewiss hatte jedes sein eigenes, unverwechselbares Wesen, das ihm von der Stunde der Geburt an mitgegeben war; Robert war hellblond und Yves rotblond und Muriel schon fast ein bisschen brünett, der eine hatte das friedfertige Phlegma des Vaters geerbt, der andere den zum Hysterischen sich neigenden Scharfsinn der Mutter, die Dritte ein Talent zur Diplomatie, das in der Familie bisher unbekannt gewesen war. Aber flache Hinterköpfe hatten sie alle, und freundliche Rebellen waren sie auch, und die Neigung zu fröhlicher Schwermut zeigte sich schon bei den Kleinsten.
    Während Léon seine schlafenden Kinder betrachtete, rekapitulierte er in Gedanken seine ganz persönliche Beweisführung für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die er sich unter Einsatz von empirischer Beobachtung, physikalischer Basistheorie sowie Wahrscheinlichkeitsrechnung zusammengeschustert hatte. Grundlage seiner These war die augenfällige Tatsache, dass Menschen keine seelenlosen Automaten waren – zumindest seine Kinder nicht, dafür legte er die Hand ins Feuer –, sondern ganz offensichtlich von Geburt an eine Seele hatten.
    Daraus folgerte Léon mittels Massenerhaltungssatz, dass diese Seele sich nicht selbst aus dem Nichts geschöpft haben konnte. Das wiederum bedeutete, dass sie entweder schon vor der Geburt – und dann ja wohl auch vor der Zeugung – als Einheit existiert haben musste oder dass sie sich im Verlauf der Menschwerdung aus zuvor unbelebten Teilchen oder Energien gebildet hatte.
    Von diesen zwei Möglichkeiten ermittelte er im Ausschlussverfahren, dass nur die erste plausibel war; denn die zweite Möglichkeit – dass bei den Millionen von Menschen, die täglich zur Welt kommen, die Seele sich jedes Mal spontan neu bildete aus zuvor unbelebten Teilchen oder Energien – war nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit genauso inakzeptabel, wie wenn sich das Wunder der Entstehung des Lebens aus totem Schlamm nicht nur ein einziges Mal am Anfang aller Zeiten vor vielen Millionen Jahren zugetragen hätte, sondern sich tagtäglich in jeder Regenpfütze und jedem Rinnsal überall auf der Welt millionenfach ständig wiederholen würde.
     
    Als der Morgen dämmerte, schreckte Léon aus seinem Sessel hoch. Er lief zur Bäckerei und holte Brot, dann setzte er Kaffeewasser auf. Kurz

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