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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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vor sieben Uhr weckte er die Kleinen und legte ihnen frische Kleider bereit. Dann lief er drei Etagen hinauf in den Dachstock, um Michel zu wecken, der das Klingeln seines Weckers nie hörte. Wieder in die Küche zurückgekehrt, goss er das Kaffeewasser durch den Filter, setzte Milch auf und strich Butterbrote.
    Da quietschte draußen in der morgendlichen Stille eine Fahrradbremse. Halblaute Stimmen waren zu hören, dann Frauenabsätze auf dem Trottoir. Léon trat ans offene Wohnzimmerfenster und schaute hinunter. Vor der Tür stand ein Fahrrad-Taxi, daneben Yvonne. Seit er sie in der Maternité der Obhut einer Krankenschwester übergeben hatte, waren keine vier Stunden vergangen. Er rannte die Treppe hinunter und stürzte ihr in der Eingangshalle entgegen, nahm ihr die Tasche ab und schob bei dem Bündel, das sie auf dem Arm trug, eine Stoffalte beiseite, um das Gesichtchen sehen zu können.
    »Ist alles dran?«
    »Alles dran. Zwei Kilo achthundert, flacher Hinterkopf.«
    »Was ist es?«
    »Ein kleiner Philippe.«
    »Philippe – wie der Marschall?«
    »Aber nein. Nur so.«
    »Und du, alles in Ordnung?«
    »Aber ja. Es ging ganz leicht.«
    »Trotzdem hättest du dich in der Maternité ausruhen sollen. Drei oder vier Tage.«
    »Wozu denn.«
    »Wir wären schon zurechtgekommen.«
    »Ich werde euch schon nicht gleich wegsterben.«
    »Was würde ich anfangen ohne dich.«
    »Und ich ohne dich.«
    »Yvonne?«
    »Ja?«
    »Ich liebe dich.«
    »Ich weiß. Ich dich auch, Léon.«
    »Lass uns hinaufgehen, die Milch läuft gleich über.«
     
    Das kam ganz unvorbereitet und überraschend für sie beide, sie hatten diese Worte seit vielen Jahren nicht mehr ausgesprochen; vielleicht war gerade das der Grund dafür, dass sie an jenem Morgen noch frisch und unverbraucht klangen und dass nichts Falsches, nichts Gewolltes oder Verkrampftes in ihnen lag. Er legte ihr den Arm um die Taille, und sie trug ihre friedlich schlafende Geduldsprobe, die nun für ein paar Jahre und Jahrzehnte bei ihnen zu Besuch sein würde, die Treppe hoch.
     
    Tags darauf ging er wieder ins Labor, wo er seit bald einem Jahr mit Kopistenarbeit beschäftigt war und schön aufpasste, darüber nicht verrückt zu werden. Jeden Morgen um halb neun lag auf seinem Schreibtisch ein Stapel von hundert gewellten, zerfledderten und zerflossenen Karteikarten, deren Inhalt er zu entziffern und auf blütenweiße neue Karten zu übertragen hatte. Irgendwann nach Feierabend dann, wenn am Quai des Orfèvres die meisten Büros und Labors verwaist waren, machte Hauptmann Knochens Ordonnanz die Runde und sammelte die Kopien und die Originale ein.
    Gelegentlich kam es vor, dass Léon nur siebzig oder achtzig Kopien schaffte, weil er zwischendurch eine Mandeltorte auf Arsen zu prüfen hatte oder eine Flasche Campari auf Rattengift; dann ließ er abends die zwanzig oder dreißig unerledigten Karten auf dem Schreibtisch liegen, und die Ordonnanz legte über Nacht siebzig oder achtzig hinzu, damit er am nächsten Morgen wieder hundert Stück vorfand.
    Aus Rücksicht auf seine Kinder achtete Léon nun darauf, beim Abschreiben nicht mehr zu viele Fehler zu machen. Eine Weile hatte er den Versuch eines informellen, nicht nachweisbaren Bummelstreiks unternommen, indem er über jeder einzelnen Karte möglichst lange brütete, dann den Text mit Bleistift entwarf und schließlich mit Tinte und umständlicher Schülerschönschrift die gültige Fassung zu Papier brachte. Zwar gelang es ihm so, seine Leistung auf zwanzig Karten pro Tag zu senken; aber von der Schülerschrift bekam er Krämpfe, und von der Bummelei wurde ihm fad; nach wenigen Tagen angestrengten Nichtstuns ließ er seinem Naturell wieder freien Lauf und kehrte zur gewohnten speditiven Arbeitsweise zurück.
    Den arabischen Mokka jedoch, den Hauptmann Knochen ihm Woche für Woche mit bösartiger Zuverlässigkeit zukommen ließ, trank er nicht; er stellte die schwarzweißrot bedruckten Kilogrammdosen ungeöffnet in den Schrank, in dem er die italienische Mokkakanne verstaut hatte. Auch die neue Tischlampe hatte er aufs Fensterbrett neben seinem Schreibtisch verbannt und schließlich, nachdem der Hauptmann sich monatelang nicht hatte blicken lassen, weggeräumt und gegen eine alte Funzel ausgetauscht, die er auf dem Dachboden gefunden hatte.
     
    Eines sonnigen Morgens nach einem nächtlichen Regenschauer im Spätsommer aber war alles wieder anders. Léon hatte auf dem Weg zur Arbeit Kastanien übers glitzernde Kopfsteinpflaster

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