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Leonard Bernstein

Leonard Bernstein

Titel: Leonard Bernstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Cott
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nicht nur bei den Konzerten, weil man im Voraus abschätzen muss, wo sie einem nicht mehr folgen können oder wo man Gefahr läuft, sie zu verlieren – besonders die Jüngeren.
    Es war Nietzsche, der sagte, dass in jedem echten Mann ein Kind verborgen sei, das spielen will.
    Und »spielen« ist ein sehr großes Wort. Weil wir das Wort für die Musik verwenden – wir spielen Klavier, wir spielen Tschaikowskys 6. Sinfonie. Und wir sehen ein Stück von Shakespeare, in dem Schauspieler den Macbeth spielen. Hamlet ist ein Spieler . Strawinsky sagte, dass Musik »das Spiel der Töne« sei, zwölf kleine Noten … weniger als die Hälfte eines Alphabets. Ich mache furchtbar gern Anagramme, deshalb liebe ich auch englische Kreuzworträtsel und andere Worträtsel. Jede Woche hole ich mir den Manchester Guardian , und einmal wöchentlich mache ich auch das Rätsel in The Nation , weil es so britisch ist, und die Rätsel in The Atlantic und Harper’s Magazine liebe ich, weil sie sehr schwierig sind. Es gibt Rätsel, die im Kern Anagramme sind, bei denen man mit den Buchstaben jonglieren muss, wie bei den Wörtern beard und bread, die aus den gleichen Buchstaben gebildet werden, aber etwas ganz anderes bedeuten. Spiel technik. Das ist alles, was Musik eigentlich ist.
    Mein erstes Young People’s Concert , 1958 in der Carnegie Hall, hatte den Titel »Was bedeutet Musik?«. Es war wunderbar. Ich sprach über wirklich schwierige Dinge zu diesen Kindern. Und es gab keine Papierflieger in der Luft – es hat ihnen wirklich gefallen. Vor Kurzem habe ich die Liveaufzeichnung dieses Konzerts gesehen. Ich kam heraus und verbeugte mich, die Kinder klatschten, und ich hob den Taktstock, und wir spielten den Anfang der Ouvertüre von Wilhelm Tell. Nach zwölf Takten hörte ich auf, drehte mich um und sagte: »Was ist das?« »Die Texas Rangers!«, schrien sie alle. »Falsch! Es ist die Ouvertüre einer Oper namens Wilhelm Tell , geschrieben von einem Mann namens Rossini. Wie gefällt euch das?« »Buuuuh!« »Okay. Tut mir leid, dass sie das für die Texas Rangers verwendet haben, aber was macht das schon? Die Musik ist nicht gleichbedeutend mit Wilhelm Tell oder den Texas Rangers. Es ist beide Male dasselbe aufregende Stück.« »Ach – so ist das.«
    Und dann spielten wir Teile des Don Quixote von Richard Strauss für sie, ohne den Namen des Werks zu erwähnen, und ich sagte: »Wir spielen euch jetzt ein Stück von Richard Strauss vor, einem großartigen Mann, und was er besonders gut komponieren konnte, war Musik, die Geschichten erzählt und eine bestimmte Atmosphäre, einen bestimmten Ort heraufbeschwört. Programmmusik.« Und dann erzählte ich ihnen eine Geschichte, die ich von A bis Z erfunden hatte, über Superman: »Und hier kommt Superman und fliegt durch die Luft«, und wir spielten die entsprechende Stelle in Don Quixote , den Ritt durch die Luft. »Yeah!«, jubelten die Kinder. »Passt auf«, sagte ich dann. »Superman hat einen guten Freund, der unschuldig im Gefängnis sitzt. Er ist also zu Unrecht eingesperrt, und Superman rettet ihn, okay? Und weil es Nacht ist, hört man alle Gefangenen schnarchen.« Und wir spielten die Passage, in der die Schafe in verschiedenen Tonarten blöken und es jede Menge Geschrei gibt. Und Don Quixote, der glaubt, dass es sich um eine große Armee handelt, reitet auf seinem alten Klepper und haut mit dem Schwert um sich, und die Schafe zerstreuen sich blökend in alle Richtungen. Und ich sagte zu den Kindern: »Jetzt kommt Superman in das Gefängnis, in dem alle schnarchen, und dann wachen alle auf, wenn Superman über ihnen herumfliegt.« Und die Kinder waren begeistert.
    Und dann drehte ich mich zu ihnen um und sagte: »Wisst ihr was? Ich habe euch die ganze Zeit angelogen. Diese Musik hat überhaupt nichts mit Superman zu tun. Er war noch gar nicht erfunden, als diese Musik komponiert wurde. Eigentlich geht es um einen Typen namens Don Quixote, einen alten Ritter auf einem alten Gaul, der ausgezogen ist, um gute Taten zu tun.« Dann spielten wir das Ende des Stücks, das den Tod von Don Quixote darstellt. Und es gab stürmischen Beifall. Die Kinder nahmen es mir gar nicht übel, dass ich sie angelogen hatte – sie fanden es toll, dass ich ihnen am Ende die Wahrheit sagte. Und sie begriffen, dass Musik nichts anderes darstellen muss als Musik. »Es muss nicht Superman sein«, sagte ich ihnen, »es kann genauso gut Don Quixote sein, das ist ganz egal. Hört einfach zu, begreift, wie

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