Leonard Bernstein
war?« Wie unschuldige kleine Kinder! Ich konnte es nicht glauben. Und ich bin so wütend auf sie geworden und sagte: »Wie können Sie mir diese Fragen stellen? Sie sind in dieser Stadt aufgewachsen, dem Judenzentrum der Welt, aus dem sie alle vertrieben und getötet wurden.«
Und das ging nach anderen Proben weiter, manchmal sogar nach Konzerten, sie ließen mich nicht los. Wir gingen etwas trinken und führten das Gespräch in einer Bar fort. Und schließlich erklärte einer der Klarinettisten: »Von Kindheit an wissen wir, dass wir keine Fragen stellen sollen, weil wir nie Antworten bekamen. Also haben wir nicht gefragt. Wir haben da und dort ein paar Sachen aufgeschnappt, haben etwas in Zeitschriften gelesen und etwas im Fernsehen gesehen, aber wir konnten nie fragen.«
Sie wussten nicht, dass Jesus Jude war und dass Jesus Aramäisch sprach und dass er bei seinen Zeitgenossen Rabbi Jeschua ben Josef hieß, oder dass benedictus » Baruch Haba B’Shem Adonai« bedeutet und dass es eine Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament gibt. Sie gingen alle regelmäßig zur Kirche und hatten eine gute Erziehung in der Tradition ihrer Nazi-Großväter genossen. Und doch betrachte ich sie als meine lieben Kinder und Brüder. Manchmal werde ich gefragt, wie ich das tun kann, nach Wien reisen – Kurt Waldheim ist der Präsident von Österreich! – und die Wiener Philharmoniker dirigieren. Ganz einfach, weil ich ihre Liebe zur Musik so liebe. Und Liebe vermag sehr viel.
Das war es, was ich vorhin sagen wollte über das Lernen und die sofortige Bedürfnisbefriedigung. [Er nimmt meinen Kassettenrekorder in die Hand.] Hast du das mitbekommen? Hast du das mitbekommen, du kleine Maschine? Man kann die Sixtinische Kapelle nicht im Schnelldurchlauf erfassen. Man muss auf dem Rücken liegen und zu dieser Decke hinaufschauen und sich in sie versenken. Wir haben schon eine ganze Generation Kinder verloren, die für alles Schöpferische und Schöne blind sind, die blind sind für die Liebe, die Liebe, die LIEBE – dieses ramponierte, alte, schmutzige Wort, das nur noch wenige Leute verstehen.
Sie sprechen oft von Vertrauen, Hoffnung, Glauben. Offenbar sind Sie ein gläubiger Mensch; Sie glauben nicht nur an die Liebe, sondern auch an die Idee der Kontinuität.
Wir müssen zurückkehren zu Vertrauen und Hoffnung und Glauben – das sind Dinge, mit denen die Natur uns ausgestattet hat. Aber leider sind wir auch mit der Überzeugung auf die Welt gekommen, wir seien das Zentrum des Universums. Und von allen Traumata ist das das größte, das man auch am schwersten loswird: dass wir nicht das Zentrum sind. Das am schwersten zu akzeptierende Weltbild ist das kopernikanische: dass man nur ein Staubkorn ist auf diesem Planeten, und der Planet ist ein Staubkorn im Sonnensystem, und das Sonnensystem ist ein Staubkorn in der Galaxie, und die Galaxie ist ein Staubkorn im Universum … und das wiederum ist ein Staubkorn in etwas noch Größerem, das wir mit unserem Geist gar nicht begreifen können.
Die Kabbalisten sagen, dass die Geheimnisse des Universums den Wissenden durch sieben Stimmen, sieben Töne enthüllt werden.
Ja, das weiß ich. Sieben war immer eine mystische Zahl – die sieben Arme der Menora … und warum, glauben Sie, haben wir sieben Tage in der Woche? Ich habe gerade einen Artikel in der New York Times über die Grenze des Raums, die Grenze unseres Universums gelesen, die auch die Grenze der Zeit ist. Zeit/Raum, das ist dasselbe. Es ist so unheimlich, dass ein Schauer einen überläuft. Wir sind uns alle so nah. Und manchmal, besonders hier draußen auf dem Land, kommt man dem Ganzen noch näher, und wenn man das Gespür dafür an andere weitergibt – besonders an Kinder –, dann ist man wahrlich gesegnet.
Das Schwerste auf der Welt ist der Beginn der Pubertät, wenn einem die Sterblichkeit bewusst wird und man damit klarkommen muss. Ich habe einmal ein Young People’s Concert dazu gemacht. In der Sendung habe ich über Nietzsche gesprochen und am Ende Also sprach Zarathustra von Richard Strauss gespielt. Es gibt kein Thema, das für Kinder zu schwierig wäre, über das man nicht mit ihnen sprechen könnte. Man muss nur erkennen, wo bei ihnen ein Schmerz liegt, worunter sie vielleicht leiden. Warum basteln sie Papierflugzeuge aus ihren Programmheften und lassen sie fliegen? Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist nicht allzu groß, das muss man einrechnen und sich ein paar Tricks einfallen lassen: in den Texten,
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