Leonard Bernstein
Moment, den ich je erlebt habe.
Ich persönlich erinnere mich an die erstaunliche Zeit der Bewegung gegen den Vietnamkrieg.
Aber das war eine sehr schlimme Zeit. Daran war nichts Positives. Der verdammte Nixon war am Ruder, einer der größten Betrüger aller Zeiten. Wir lebten unter seiner Knute.
Aber was ich sagen will, ist: Jeder, der, anders als die Menschen meiner Generation, die Möglichkeit der Zerstörung des Planeten von einem Augenblick zum nächsten für eine Selbstverständlichkeit hält und damit aufgewachsen ist, wird umso mehr angezogen werden von der Aussicht auf sofortige Befriedigung seiner Bedürfnisse – man drückt einfach auf den Knopf, und der Fernseher läuft, man wirft etwas ein, schnupft Koks, besorgt sich einfach eine Spritze. Es ist unerheblich, dass man davon impotent wird. Man wird high, und im Bett fällt man in Ohnmacht … und wenn man aufwacht, ist man nur noch zynisch. Die Mädchen wachen auf und sind unbefriedigt, und die jungen Männer wachen auf und schämen sich, haben Schuldgefühle und Beklemmungen und sind voller manischer Ängste … Schuld bringt Angst und Unruhe hervor, aus Unruhe wird wieder Angst, und das geht immer weiter, wird zu einem Teufelskreis, bei dem eines das andere verstärkt, und das treibt einen dann dazu, Tag für Tag nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung zu suchen. Aber alles Ernste ist nicht sofort zu haben – man kann etwas wie die Sixtinische Kapelle nicht in einer Stunde produzieren. Und wer hat denn noch die Zeit, sich eine Mahler-Sinfonie anzuhören?
Ich.
Das wundert mich. Sie sind sechsundvierzig. Es wundert mich auch bei meinen Kindern. Meine Tochter Nina, die jetzt siebenundzwanzig ist, hat die 2. Sinfonie von Mahler so oft gehört, dass sie sie besser kennt als ich. Sie hat sie so oft auf Platte gehört und bei meinen Proben, dass sie sie so gut kennt wie meine Schwester Shirley die Texte von allen möglichen Popsongs.
In den Sechzigerjahren haben viele junge Leute Buttons am Revers getragen, auf denen stand: MAHLER GROOVT .
Das war gut. Das war sehr gut. Ich kann mich erinnern. Und ich wette, Sie wussten nicht, dass ich diesen Slogan erfunden habe. Bis heute klebt ein Sticker mit diesem Aufdruck auf der ersten Seite meiner Partitur der 6. Sinfonie. Aber zu Kindern aus Harlem können Sie nicht sagen: Mahler groovt … und übrigens auch nicht zu den Musikern der Wiener Philharmoniker. Das sind sozusagen meine Kinder, aber der lockere, der lustvolle Mahler interessiert sie nicht besonders.
Wissen Sie, 1988 nahm ich dieses Orchester mit nach Israel. Wohlgemerkt: die Wiener Philharmoniker! Und eines der Werke, die wir in Jerusalem spielten, war tatsächlich die Sechste von Mahler. Das war ein Erlebnis! Stellen Sie sich vor … diese katholischen Orchestermitglieder, die, bevor ich sie dirigierte, nicht wussten, was ein Jude ist – Musiker, die in der Stadt aufwuchsen, in der Freud, Schönberg, Wittgenstein, Karl Kraus geboren wurden … ganz zu schweigen von Mahler. Wien war inzwischen eine Stadt, in der es fast keine Juden mehr gab, obwohl es einmal das jüdische Zentrum der Welt war!
Als sie zum ersten Mal meine Kaddish -Sinfonie probten, brachen sie auf einmal ab und fragten mich, was das Wort Kaddisch bedeute und warum dieses Stück sie so bewege, und ob ich ihnen etwas darüber erzählen könne. An diesem Abend sollten wir eigentlich um sechs Uhr Schluss machen, weil die Musiker auch an der Oper spielen mussten, das heißt, sie hatten noch einen langen Weg zur Wiener Staatsoper, mussten auf dem Weg noch ein Gulasch essen und einen Kaffee trinken und beim ersten Taktschlag um sieben Uhr auf ihren Plätzen sitzen. Das hielt ich ihnen vor Augen und sagte dann, dass wir mit der Sinfonie ja noch nicht einmal zur Hälfte durch seien. Aber sie sagten: »Wir bleiben.« Ich fragte das ganze Orchester: »Wie viele von Ihnen müssen heute Abend in der Oper spielen?« Ungefähr zwanzig Hände gingen hoch. »Was wird gespielt?« Ariadne . Und wissen Sie, Ariadne auf Naxos von Richard Strauss ist keine ganz einfache Angelegenheit. Aber sie gaben nicht nach: »Wir bleiben, wir bleiben. Sagen Sie uns nur, was Kaddisch bedeutet.«
Also erklärte ich, dass es mit dem Wort sanctus verwandt ist, dass das, was sie jede Woche in der Kirche sagten: sanctus , sanctus, sanctus, dasselbe Wort sei wie kadosch, kadosch , kadosch . Da wurden sie blass … und dann stand einer der Musiker auf und sagte: »Was meinen Sie damit, Maestro? Dass Christus jüdisch
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