Leonard Bernstein
herrlich diese Musik ist!«
In einem anderen Young People’s Concert behandelte ich das relativ anspruchsvolle Thema: »Was ist eine Tonart?«. Ich brachte ihnen die sieben Kirchentonarten und die zwölf modalen Tonarten bei. Ich glaube, für diese Sendung bekam ich mehr Fanpost als für jede andere … weil ich ihnen Popsongs in der mixolydischen Tonart vorsang: » Girl, you really got me now / You got me so I can’t sleep at night. / You really got me / You really got me .« Wer hat das gesungen?
Die Kinks.
Die Kinks. Genau. Die Kinder waren begeistert. Ich sang ihnen auch einen Beatles-Song in dorischer und noch einen in äolischer Tonart vor. Die Kinder werden die mixolydische, dorische und äolische Tonart sicher nie vergessen!
In einem Essay über die Vorstellungen von Kindern über Kunst schrieb der Psychologe Howard Gardner: »Wir erwarten nicht, dass Kinder Computer verstehen lernen, indem wir sie einen PC oder einen Computerausdruck untersuchen lassen. Und doch erwarten wir, dass sie auf diese Weise für Ballett, Theater und Bildende Kunst empfänglich werden. Von den Schulen werden sie zu Theateraufführungen und ins Museum gekarrt; Leonard Bernstein gibt Kinderkonzerte im Fernsehen; und daraus soll irgendwie das Verständnis für Kunst entstehen.« Gardner scheint nicht zu glauben, dass Verständnis für Kunst tatsächlich so entstehen kann.
In den sechs Vorlesungen, die ich 1973 an der Harvard University hielt 6 , habe ich gesagt: Alle Kinder sind mit sprachlicher und musikalischer Kompetenz auf die Welt gekommen. Anders wäre es nicht zu begreifen, dass ein zweijähriges Kind »Ich mag das grüne Eis lieber« in jeder Sprache sagen kann, ob Suaheli oder Holländisch. Jedes Kind kann in der Sprache seiner Eltern sagen: »Ich mag das grüne Eis lieber.« Das ist das Pfingstalphabet, von dem ich schon gesprochen habe, die Flammenbuchstaben, die Gott uns schenkte. Das größte Geschenk, das er dem Menschen machte, ist die Fähigkeit zu sprechen und zu kommunizieren. Und ein großer Teil von Kommunikation ist Musik.
Jedes Kind ist mit einem Sinn für Rhythmus begabt und besitzt die Fähigkeit, sich auf die Obertonreihe einzustimmen. Das gehört zu der Luft, die wir atmen, zu unserem Körper. Die Naturtonreihe ist in jedem Menschen – die Oktave, die Quinte, die Quart, die Terz, die großen und kleinen Sekunden. Das ist durch physikalische Verfahren beweisbar. Ein Baby kennt das Intervall einer Oktave, weil seine Mutter einen Ton oder eine Melodie eine Oktave höher singt als sein Vater. Und jedes Kind kennt die Quinte, und jedes Kind kennt die ersten zwei Obertöne der Naturtonreihe. In jedem Land der Welt machen sich Kinder mit derselben Melodie übereinander lustig: Ätsch-bätsch, ätsch-bätsch, es sind die ersten zwei Obertöne der Naturtonreihe. Und jedes Kind ist mit der Kenntnis von eins-zwei, eins-zwei auf die Welt gekommen – es hat zwei Hände, zwei Füße, zwei Augen, es kennt die zwei Brustwarzen der mütterlichen Brust, es atmet ein und aus, es kennt oben und unten, links und rechts, und dann marschiert es: tapp-tapp, tapp-tapp. Vielleicht nicht immer rhythmisch korrekt, aber das kommt schon, es ist in ihm. Wenn wir also eins-zwei kennen, merken wir auch, wenn der Rhythmus sich ändert: Wir erkennen die Drei. Darum ist der Dreiertakt für uns so ehrwürdig und besonders, weil wir nicht dreifach angelegt sind, wir sind dual. Und deshalb ist der Walzer so faszinierend – deshalb war es jungen Damen verboten, Walzer zu tanzen, als er in Mode kam.
Im Kern erinnert mich das, was Sie sagen, an einen Ausspruch des chassidischen Rabbis Dow Bär: »Jeder Mensch besteht aus einem Lebenslied, dem Lied, durch das unser innerstes Wesen erschaffen wurde, dem Lied, das uns bestimmt.«
Das ist schön. Das ist wunderschön. Und es drückt auf sehr kunstvolle Weise das aus, was ich zu sagen versuche, nämlich etwas sehr Einfaches … obwohl die Arbeit, die getan werden muss, sehr kompliziert ist. Weil wir das Lebenslied unserer Kinder zerstören, indem wir ihnen Hemmungen beibringen und sie dazu bringen, dass sie zynisch und manipulativ werden, zusätzlich zu den üblichen Kindheitstraumata – das habe ich ja schon gesagt. All das ist Teil des Missbrauchs, den wir mit unseren Kindern treiben, es gehört zu den vielen Formen mangelnder Aufmerksamkeit, mangelnder Liebe.
Das ist ein sehr dissonantes Lebenslied.
Und doch hat laut Ihrem Rabbi jedes dieser Kinder ein einzigartiges Lebenslied. Indem wir
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