Leonard Bernstein
mal geschrien / Maaa, du willst sie doch nicht etwa behalten?«
Meine eigene Enkeltochter hat, laut ihrer Mutter (meiner Tochter Jamie – die erste Frucht meiner Lenden, ich liebe sie abgöttisch … sie spielt Gitarre und Klavier, und ich glaube, sie ist genauso gut oder sogar besser als Laura Nyro), mit zweieinhalb Jahren ein großartiges Geständnis abgelegt. Bis dahin hatte sich alles um sie gedreht, sie war die Göttin und die Prinzessin, und jetzt war ein neues Baby unterwegs: Spike. Ein Monster! Dieses neue Kind. Bäh! Bei nichtigen Anlässen bekam sie Wutanfälle, denn solche Dinge gehen ja unbewusst vor sich. Jamie streichelte sie und beruhigte sie, und schließlich war sie so weit, dass sie es zugab: »Weißt du was, Mommy?«, sagte sie. »Ich mag das neue Baby einfach nicht.« Können Sie sich vorstellen, aus welchen Tiefen so ein Geständnis kommen muss? Und nur weil sie damit herauskam und es mit zweieinhalb Jahren gesagt hat, wird ihr wahrscheinlich gute zehn Jahre später die Couch erspart bleiben. Und so gibt es eben ein Trauma nach dem anderen.
Was passiert, wenn das kleine Mädchen zum ersten Mal in den Spiegel schaut und merkt, dass es jemand anders ist?
Sagen Sie es mir!
Es sieht sich spiegelverkehrt.
[Er lacht.] Ja. Und dann entdeckt es sein Geschlecht. Ich versuche nicht, Ihnen einen Vortrag über Freud zu halten. Ich will nur sagen, dass jedes dieser Traumata den Lerneifer beeinträchtigt, mit dem das Kind auf die Welt kommt.
Glauben Sie?
Ich weiß es. Und jedes Mal, wenn ein Kind einen neuen Trick lernt, wie es Bruder, Schwester oder die Eltern manipulieren kann – »Ich fange gleich an zu schreien, ich passe nicht auf, ich höre nicht zu, wenn ihr mit mir redet« –, wird es zynischer und schaltet ab. Ja, die Kinder schalten ab.
Wenn man also zufällig, sagen wir, in eine schwarze Familie mit alleinerziehender Mutter in einer Großstadt hineingeboren wird, hat man jede Menge Schwierigkeiten, selbst wenn man das Geburtstrauma und all die anderen Traumata nicht hätte. Denn man ist arm und benachteiligt, und dazu erleidet man noch all diese Schocks, die »unseres Fleisches Erbteil« sind, wie Shakespeare sagt. Also wenn man nicht das Kind von frommen Juden oder Sikhs ist, denen man beibringt, honigtriefende Buchstaben zu schlecken, wird man, wenn man in die Schule kommt, bereits vollkommen immun sein gegen das Lernen. Und je größer die Traumata sind und je mehr Armut und Geldgier da sind, wie wir es in der Reagan-Bush-Ära jetzt schon seit zehn Jahren erleben, desto schlimmer wird es, und desto größer wird die Anziehungskraft der Straße – die Anziehungskraft von Crack und Alkohol und dem Fernseher, vor dem man bewegungslos verharrt … von allem, was sofortige Befriedigung gewährt und damit an die Stelle der sofortigen Befriedigung durch die Mutterbrust tritt.
Die Brust ist eigentlich das erste Fast Food.
Ja, das schnellste Essen der Welt.
Noch eine kleine Abschweifung: Wenn man nach 1945 geboren wurde, nach der Explosion der Atombombe, ist man ein völlig anderer Mensch als jemand, der vor diesem Ereignis auf die Welt kam. Weil man in einer Welt aufwächst, in der die Möglichkeit der globalen Zerstörung zum Alltag gehört – und zwar so sehr, dass man nicht einmal mehr darüber nachdenkt. Aber es prägt den Lebensstil.
Und wenn Sie mein Patient wären und ich Ihr Analytiker, müssten wir damit anfangen, weil Ihre Persönlichkeit mit dieser Bombe explodiert ist. Sie, Jonathan, gehören schon zur zweiten Generation der Bombe. Und was ist mit Leuten, die halb so alt sind wie Sie, die jetzt dreiundzwanzig sind? Es sind jetzt schon zwei ganze Generationen, die mit der Haltung aufgewachsen sind: »Was soll’s, wir können doch alle in fünf Minuten sterben, ob morgen oder nächste Woche.« Das nukleare Establishment arbeitet wie besessen am Aufbau nuklearer Arsenale, und dabei ruinieren sie die Erde. Wenn man keinen Feind hat, kann man nicht leben. Wir haben entweder eine Kriegswirtschaft oder wir haben keine Wirtschaft. Und was jetzt nicht mehr stimmt, ist, dass sich der Feind plötzlich vor unseren Augen auflöst, weil er selbst es wollte … weil das Volk es wollte: Verdammt noch mal, in Berlin ist die Mauer gefallen! Begreifen Sie, was das heißt? Das ist das aufregendste Ereignis in meinem Leben, und ich bin schon ziemlich lange am Leben. Vielleicht mit Ausnahme der Tatsache, dass John F. Kennedy Präsident wurde, ist es der erhebendste und positivste historische
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