Leonard Bernstein
ist wirklich eine Pille, die etwas taugt … aber ich war es nicht, sondern Mahler selbst. Andere Dirigenten haben einfach nicht den Mut, zu spielen, was Mahler geschrieben hat, das ist alles. Ich bin Komponist, und ich verstehe, was er meinte. Das ist der Unterschied.
Pierre Boulez, der wie Sie nicht nur Dirigent, sondern auch Komponist ist, interpretiert Mahler – um das Mindeste zu sagen – völlig anders als Sie, geradezu gegensätzlich. Und in seinem Essay »Mahler: Our Contemporary« [Mahler: Unser Zeitgenosse] spricht Boulez von zeitgenössischen Interpretationen der Musik Mahlers und sagt an einer Stelle, dass »die anspruchsvollste Art von Freiheit die strengste Disziplin erfordert … und das umso mehr, als jegliche unbesonnene Unterwerfung angesichts des Taumels oder besser der Hysterie des Augenblicks die ursprüngliche Motivation der Musik zerstört, indem sie ihre wesentliche Vieldeutigkeit zerstört, wodurch man sie hoffnungslos trivialisiert und ihres tieferen Gehalts beraubt. Zudem wird auch die latente Substruktur zerstört und damit die Balance zwischen den verschiedenen Momenten der Entwicklung – und das alles, weil irgendein absolut unbeherrschter Wichtigtuer, der ein chaotisches Affentheater aufführt, es so will!« Was meint er mit diesem letzten Satz?
Das ist banal, man muss nicht darauf eingehen. Boulez macht einfach eine intellektuelle Veranstaltung daraus. Und ich glaube, es ist ein direkter Angriff auf mich.
Ich finde Boulez’ Interpretationen von Komponisten wie Debussy und Alban Berg wirklich außerordentlich, aber sein Mahler scheint nicht nur übermäßig apollinisch zu sein, sondern allzu oft auch von dicken Eisschichten überzogen.
Haben Sie ihn je mit Schumann gehört? Da stehen Sie auf und verlassen den Saal. [Er singt holprig und schwerfällig eine Schumann-Melodie] Di da da-da di da-da-da , di da da-da di da-da - da … ich meine, vergessen Sie’s. Er empfindet keine Liebe dafür.
Ich kann einfach nicht glauben, dass eine emotionsgeladene Aufführung automatisch die strukturellen Aspekte von Mahlers Sinfonien verschwinden lässt oder gar im Gegensatz zu ihnen steht. Das kommt mir falsch vor.
Es ist auch falsch. Aber ich bin überzeugt, dass eine rein emotionale Interpretation, ohne intime Kenntnis der einzelnen Details, die Mahler da hineinkomponiert hat – und es gibt Millionen solcher Details –, eine hoffnungslose Angelegenheit ist. Aber ich habe solche Interpretationen schon gehört. Sie zeugen immer von einem Mangel an Wissen, und die Aufführungen werden zur reinen Zurschaustellung oberflächlicher Emotionen – man zeigt sich dann zum Beispiel sehr bewegt, wenn die Musik bewegend ist.
Als junger Mann sprach Strawinsky »Mahler« gern wie »Malheur« [Unglück] aus.
Aber er änderte seine Meinung.
Erinnern Sie sich an die erste Mahler-Sinfonie, die Sie je hörten?
Das war die Vierte, dirigiert von Bruno Walter, als ich auf dem College war. Sie hat mich bis ins Mark getroffen, besonders im dritten Satz.
Ich habe immer nach Worten gesucht, die die leuchtende Art Ihres Dirigierens von Mahler beschreiben könnten. Schließlich habe ich sie bei Walt Whitman gefunden:
»Das Orchester wirbelt mich über die Bahn des Uranus hinaus,
Es entreißt mir solche Gluten, ich hatte nicht gewusst, dass ich sie besaß,
Es segelt mit mir dahin, ich plansche mit nackten Füßen, geleckt von trägen Wellen,
Ich werde von hartem zornigem Hagel geschlitzt, mir versagt der Atem,
Getränkt in honigsüßem Morphium, meine Luftröhre erdrosselt von Schlingen des Todes,
Schließlich wieder entlassen, das Rätsel der Rätsel zu fühlen,
Und dies nennen wir Dasein.« 10
Großer Gott! Daran erinnere ich mich nicht, wo steht das?
In »Gesang von mir selbst« von Walt Whitman. Er war in der Oper gewesen und versuchte, das Erleben der Aufführung in Worte zu fassen.
Das ist sehr gut. Unglaublich.
Mahler hat einmal provokativ gesagt, dass der Künstler das weibliche Element repräsentiere und im Gegensatz stehe zu dem Genius, der ihn befruchte – als wäre der Komponist sein eigener Liebespartner.
Nein: als würde der Komponist von einem göttlichen Wesen geliebt. Und damit wollte Mahler das ausdrücken, was auch Jesus sagte. Die Vorstellung von Vater und Sohn und dem Essen und Trinken seines Leibes … genau wie in Alice im Wunderland . Alice sieht ein Stück Kuchen auf dem Tisch, als sie dem Kaninchen hinterherläuft, sie isst es und wird größer. Dann entdeckt sie eine
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