Leonard Bernstein
Aufnahmen der Mahler-Sinfonien – mehr noch als die früheren Einspielungen – wie Reinkarnationstherapien, die die musikalische Essenz von Mahler auf verblüffende Weise zum Leben erwecken. Und es ist schon oft gesagt worden – nicht nur von mir –, dass Sie selbst eine so außergewöhnliche Affinität zu seinem musikalischen Wesen an den Tag legen, dass ich, wenn ich gläubig wäre – und für die Reinkarnation gibt es weder Beweise noch Gegenbeweise –, Sie für einen würdigen Kandidaten dafür halten würde, dass er wieder unter uns weilt!
Viele medial veranlagte Menschen haben das gesagt. Einer hat mir sogar erzählt, dass ich eine Reinkarnation von Wagner sei! Also? Vergessen Sie’s.
In einer esoterischen Anwandlung erzählte Mahler einmal, dass er beim Komponieren »eine Stimme in der Nacht« gehört habe, die er für die von Beethoven oder Wagner hielt. Sie riet ihm, die Hörner erst drei Takte später einsetzen zu lassen.
Es ist ja möglich, sich die Stimme von Beethoven oder Wagner als Introjektion einzuverleiben … aber natürlich ist es immer die eigene. Sehen Sie, unser gemeinsamer Freund Glenn Gould ist vielleicht nicht hier in diesem Raum, aber er ist in uns. Deshalb ist er doch hier. Wir haben ihn in uns, als Introjektion … und Glenn und meine Frau und andere Menschen, die ich liebe und die tot sind, spazieren nicht irgendwo da oben herum und sehen aus wie Glenn und Felicia. Sie haben keine Ohrläppchen und nicht dieselben Brustwarzen wie zu der Zeit, als sie auf der Erde waren. Aber irgendwie sind sie da, ihr Wesen ist da. Wir verstehen es nur nicht, die Evolution ist noch nicht weit genug fortgeschritten, als dass wir auch nur eine entfernte Ahnung davon hätten, was das Wort »Seele«, das wir in so törichter Weise verwenden, bedeuten kann.
Ich glaube, Sie haben recht.
Sie wissen, dass ich recht habe. Ich rede nicht mit jedermann so, aber ich rede mit Ihnen so, weil Sie wissen, was ich weiß.
Heißt das für Sie, dass der Tod nicht real ist?
Doch, er ist real, aber etwas geht weiter – nicht der Name, nicht die Nase einer Person, aber ihr Kern, das, was sie ausmacht, das stirbt nicht. Ich kann beschwören, dass Felicia oft bei mir ist … wenn auch nicht in ihrer Gestalt.
Zu mir kommt oft ein weißer Schmetterling. Erstaunlich oft. Und ich weiß, es ist Felicia. Ich weiß noch, als sie gestorben war, stand ihr Sarg in unserem Wohnzimmer in East Hampton … es waren nur ein paar Leute da – die Familie und ein Rabbiner und ein Priester, denn sie war in Chile in einem Kloster aufgewachsen. Wir hörten Mozarts Requiem , vom Plattenspieler. Niemand sagte ein Wort. Und dann kam dieser weiße Schmetterling herein, Gott weiß, woher – er tauchte einfach unter dem Sarg auf und flog umher und setzte sich auf jeden, der da war – auf jedes der Kinder, auf den Rabbiner, auf den Priester, auf ihren Schwager und zwei ihrer Schwestern, auf mich … und dann war er weg … obwohl kein Fenster offen stand. Und das Gleiche ist passiert, als ich hier draußen in meinem Garten saß … weiß.
[Nach einem langen Schweigen füllt L. B. unsere Weingläser nach, und sein Assistent kommt, um das Dessert aufzutragen, zwei gebackene Birnen.]
Nehmen Sie sich eine Birne!
Die Früchte des langen Lebens. Die sollte und werde ich essen! Sie sehen wunderbar aus.
Und ewige Jugend steht bevor!
Sie haben gerade Glenn Gould erwähnt, und ich wollte Ihnen eine Frage stellen zu dem berühmten – inzwischen berüchtigten – Konzert in der Carnegie Hall am 6. April 1962, als Gould unter Ihrer Leitung mit den New Yorker Philharmonikern das Klavierkonzert Nr. 1 in d-Moll von Brahms spielte; Sie wandten sich damals vor dem Konzert von der Bühne aus ans Publikum, um sich auf sanfte Weise von Goulds eigenwilliger und unglaublich vergrübelter Interpretation des Stückes zu distanzieren. Ich war damals neunzehn und hatte das Glück, an diesem Freitagnachmittag im Saal zu sitzen, oben im Rang, und ich werde mich immer daran erinnern als eine aufschlussreiche und mitreißende musikalische Erfahrung.
Wissen Sie was? Sie sind vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der dazu beitragen kann, dass diese Legende endlich ausstirbt, weil sich Legenden, das sagte ich ja schon, meist unglaublich lange halten. Und diese Geschichte über mich, Gould und das Brahms-d-Moll-Konzert hat ein äußerst zähes Leben.
Zunächst muss ich sagen, dass die Aufnahme des Konzerts von der Radioübertragung vom 6. April stammt. Aber
Weitere Kostenlose Bücher