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Leonard Bernstein

Leonard Bernstein

Titel: Leonard Bernstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Cott
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die Erstaufführung war am Vorabend, am 5. April. Wenn es also in allen Zeitungen und Zeitschriften hieß, Bernstein habe Goulds Tempo abgelehnt, obwohl das Tempo gar nicht so langsam war – dann stimmt das, es war gar nicht so langsam, am Freitag. Weil Glenn am Donnerstagabend, als das Konzert fast anderthalb Stunden dauerte, etwas gelernt hatte!
    Wirklich so lang?
    Es war unglaublich. Das können Sie sich nicht vorstellen. Und ich sage Ihnen … die Proben waren einfach ungeheuerlich!
    Glenn hatte mich ein paar Wochen vor dem Konzert aus Toronto angerufen und gesagt: »O Gott, Lenny, ich habe hier was für Sie, da werden Sie Augen machen!« Und ich sagte: »Glenn, bei Ihnen überrascht mich gar nichts. Nicht mehr.« Und er sagte: »Diesmal werden Sie doch überrascht sein. Ich habe die Antwort auf die d-Moll-Sinfonie von Brahms. Wann kann ich Sie sehen?« Und ich sagte, es müsse irgendwann vor der ersten Probe sein, damit ich wisse, was ich mit dem Orchester zu tun hätte.
    Also kam er in unserer damaligen New Yorker Wohnung vorbei, die genau gegenüber der Carnegie Hall lag. Er lernte bei dieser Gelegenheit auch Felicia kennen, und als er reinkam, hatte er eine Pelzmütze auf dem Kopf und trug einen Mantel und zwei Paar Handschuhe und ich weiß nicht wie viele Schals übereinander. Er zog also seinen Mantel aus und die Handschuhe und Schals, und Felicia bat ihn sehr liebenswürdig: »Bitte, nehmen Sie doch Ihre Mütze ab.« Und er sagte: »Nein, nein, nein, die behalte ich auf.« Und sie fragte: »Behalten Sie sie immer auf?« Er antwortete: »Immer, wenn es möglich ist!« Darauf entgegnete ich: »Ich muss Ihnen sagen, Mr. Gould, dass ich Sie so nicht sehen kann, mit dieser Mütze auf dem Kopf. Es ist so warm in dieser Wohnung, und Sie schwitzen, und wenn Sie diese Mütze auflassen, wird Ihr Haar darunter vermodern.«
    Ich weiß nicht, was dann genau passierte, aber Felicia verschwand mit ihm. Irgendwie hatte sie ihn dazu gebracht, die Mütze auszuziehen, und hatte ihn ins Badezimmer geführt, um ihm die Haare zu waschen – nur Felicia konnte sich so etwas erlauben –, sie wusch es, bürstete es, brachte es in Form … und zwanzig Minuten später kam dieses prachtvolle Geschöpf herein, dieser Engel mit dem goldenen Haar, und sagte: »Ich bin bereit.«
    Er setzte sich also an eines meiner zwei Klaviere – die Rücken an Rücken standen –, und Felicia und ich setzten uns an das andere, und er begann, den ersten Klaviereinsatz des d-Moll-Konzerts von Brahms zu spielen. [L. B. steht vom Esstisch auf, geht zum nahe stehenden Flügel und spielt jene wunderschöne herbstliche Passage, »voll Rauch und mildem Früchtefall« in komatösem Tempo, das zu einem japanischen No¯-Theaterstück gepasst hätte.] Ich sagte zu Glenn: »Wenn das das Tempo ist, mit dem Sie einsetzen, bedeutet das, ich muss das Konzert so anfangen. [L. B. spielt jetzt den aufrührerischen, donnernden Anfang des ersten Satzes wie ein lang gezogenes Grollen] Und außerdem wird allein dieser Satz vierzig Minuten dauern!« Und Glenn antwortete [L. B. spricht mit der Stimme eines teuflischen Rumpelstilzchens]: »Genau das will ich!« »Was?«, sagte ich. »Das Orchester kann das nicht spielen. Die Hörner haben nicht genug Atem, auch nur eine dieser Phrasen in diesem Tempo zu spielen.« Und Glenn sagte nur: »Warten Sie ab, Sie werden schon sehen, Sie werden schon sehen.«
    Ich vereinbarte also am nächsten Tag eine Orchesterprobe, ohne Klavier, und die Musiker riefen: »Sind Sie verrückt geworden? Wir haben das d-Moll-Konzert von Brahms hundertmal gespielt, warum sollen wir das proben?« Ich antwortete: »Klar, aber diesmal muss eine Probe sein, weil es etwas ganz Besonderes wird. Ein großartiger Typ namens Glenn Gould hat ein paar recht ungewöhnliche Ideen.« Also probte ich es mit ihnen in Goulds Tempo und bat sie: »Ich will nicht, dass jemand lacht oder protestiert, wir hatten schon viel albernere Sachen hier, wir machen eben verrückte moderne Musik, also lehnen Sie sich einfach ein bisschen zurück!« Und so spielten wir es dann mit Glenn bei der ersten gemeinsamen Probe.
    Aber das Problem war, dass wir dadurch den ganzen ersten Satz im Sechsviertel- statt im Zweivierteltakt spielen mussten. [Er singt stakkatoartig:] Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs – das ist ein Takt. Dam- da – das sind zwei Takte. Es war einfach unerträglich! Und dann kam der zweite Satz im – dreimal dürfen Sie raten – ja, wieder im Sechsvierteltakt. Einem

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