Leonard Bernstein
langsamen Sechsvierteltakt … sodass dann eigentlich kein langsamer Satz mehr zustande kam. Und dann spielte Glenn den letzten Satz so [L. B. spielt die Eingangspassage dieses Satzes wie einen Robotermarsch]. Und es gab noch ein paar meschuggene Sachen, die Glenn anstellte – wegen seines Hockers oder wegen seiner fingerlosen Handschuhe oder seiner Wasserflasche. Also, wie gesagt, die ganze Probe dauerte anderthalb Stunden.
Damals war das Donnerstagabendkonzert eine offene Probe, und ich gab dem Publikum dabei immer gern ein paar einführende Worte, indem ich zum Beispiel, wenn ich ein Stück von Debussy aufführte, über Impressionismus sprach. Und am Abend dieser Aufführung … worüber sollte ich da reden? Natürlich über die Interpretation des d-Moll-Konzerts von Brahms, die das Publikum zu hören bekomme, und ich wusste, dass ich sie darauf vorbereiten musste, weil wir sonst am Ende dieses ersten Satzes einen leeren Saal haben würden.
Also sagte ich zu Glenn: »Ich spreche vor der Probe immer zum Publikum, was, meinen Sie, soll ich den Leuten sagen? Ich will nicht über die Struktur des Konzerts reden oder darüber, dass Brahms ursprünglich eine Sinfonie daraus machen wollte, ich will auch nicht all diese Klischees wiederholen, dass es eine Sinfonie für Klavier und Orchester ist oder ein Konzert für Klavier gegen Orchester, wie gewisse Kritiker der damaligen Zeit gesagt hatten. Könnten wir nicht über Ihre neue, aufschlussreiche Interpretation des Stücks sprechen?« »Großartige Idee«, antwortete Glenn. »O Gott, ja, so muss man es machen!« Ihm gefiel dieser sportliche Aspekt von Musik – Sie erinnern sich, dass ich vorhin vom Spielen sprach, dass man Musik wirklich spielen sollte. Und auch Glenn spielte gern. Seine Radiosendungen waren sehr spielerisch, sehr spaßig, sehr scherzando.
Jedenfalls war er absolut einverstanden, und wir legten uns zurecht, was ich sagen sollte; ich machte mir ein paar Notizen auf einem Briefumschlag. Dann trat ich auf die Bühne und sagte den Leuten, dass sie eine außergewöhnliche Darbietung zu hören bekämen, dass ich persönlich noch nie etwas so Langsames gehört hätte, dass ich aber mitmache, weil es sich um einen ungewöhnlich begabten jungen Mann handle … und man solle die Sache sportlich sehen und ihm eine Chance geben. »Yeahhh!« Die Zuhörer klatschten, also waren sie bereit dazu … und dann spielten wir dieses d-Moll-Konzert übersteigert langsam – es war wie ein Eisberg, der in der arktischen See trieb … und niemand verließ den Saal, weil sie vorbereitet waren, und es gab stürmischen Beifall.
Das nächste Konzert war dann am Freitagnachmittag, und davor sprach ich ebenfalls ein paar Worte … und diese schnellere Interpretation wurde fürs Radio mitgeschnitten. Glenn und ich hatten am Abend vorher nicht beschlossen, das Konzert am nächsten Tag ein bisschen schneller zu spielen, aber er wusste einfach, dass es vorher ein ganz klein wenig unelegant geklungen hatte, also konnte ich den ersten Satz in einem schönen, schwingenden Zweivierteltakt statt in diesem endlosen Sechsvierteltrott dirigieren. Und wir kamen in ungefähr fünfzig Minuten durch.
Trotzdem spielten die Kritiker verrückt. Harold Schonberg beschuldigte mich in der New York Times , ich sei meinem Kollegen gegenüber illoyal gewesen, obwohl ich gerade betont hatte, dass ich bei diesem Konzert dem Solisten treu folgte, weil ich ihn als Künstler so sehr liebte und schätzte … und natürlich hatten Glenn und ich die einführenden Worte gemeinsam fabriziert. Fällt einem dazu noch etwas ein? Aber so wurde die Legende geboren, ich hätte meinen meschuggenen Kollegen verraten, und diese Legende lebt offenbar ewig.
Glenn war mein Engel. Meine Frau wusch ihm die Haare, wie Abraham in der Bibel die Füße des Engels wäscht. Wissen Sie, wie viele Male ich hier in diesem Raum saß und mir Glenns erste Einspielung der Goldberg-Variationen anhörte? Damals, in den kalten Wintern, als ich meine Oper A Quiet Place schrieb, zusammen mit meinem Kollegen Steve Wadsworth 13 . Er saß genau dort, wo Sie jetzt sitzen. Ich weiß noch, dass ich einmal, als wir mitten in einem sehr heiklen Problem des zweiten Akts steckten, zu Steve sagte: »Komm, wir hören uns die Goldberg-Variationen an, so kriegen wir wieder einen klaren Kopf.« Es war das Schönste, was ich je gehört hatte … und eine Stunde später hatten wir das Ende der Oper.
Wir arbeiteten immer noch an A Quiet Place , als Glenns
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