Leonard Bernstein
koffeinfrei sein.
Sollte? [Er lacht.]
Das ist mein letztes »sollte« heute Abend.
Warten wir ab.
In einer der sechs Vorlesungen, die Sie 1973 an der Harvard University hielten, behandelten Sie die grundlegenden diatonischen Gesetze der Musik hinsichtlich der Tonika, der ersten Stufe einer Tonart, und der Dominante, der fünften Stufe. Und in Ihren Kommentaren zum ersten Satz von Mozarts g-Moll-Sinfonie sprachen Sie davon, dass »die Dominante ihre Tonika sucht und jede Tonika sich in eine Dominante verwandelt, die wieder ihre Tonika sucht, und so fort«, als wäre dieser Satz eine Art Endlosschleife kontinuierlicher Sehnsucht – etwas, was das deutsche Wort mit seinem Bestandteil »sehnen« sehr gut ausdrückt …
Ja, es hat die Bedeutung: Ich brauche dich, weil es eine leere Stelle gibt, die nur du füllen kannst.
Und bei Ihren Vorlesungen hatte ich irgendwie das Gefühl, als würden Sie von der Musik als Kunst der Sehnsucht sprechen … mit Toniken und Dominanten, die »suchen«, und mit Oktaven, die sich nach etwas »sehnen«.
Das Eingangsintervall von Tristan und Isolde ist eine aufsteigende kleine Sexte [er singt], und das ist Sehnsucht, Verlangen. Selbst Karl Marx sprach von »langsamem Schmachten«. Aufsteigende Intervalle streben nach oben, und wenn sie absteigen, streben sie nach unten. Es muss etwas Besonderes bedeuten, dieses Auf und Ab, Innen und Außen, Vorwärts und Rückwärts. Hören Sie sich nur mal das Es-Dur-Trio von Schubert an [L. B. geht zum Flügel und spielt eine schmachtende Passage aus diesem Trio.] Verstehen Sie, was ich meine?
Sie glauben also, dass das in uns begründet liegt?
Ja, es gibt eine innere Geografie des Menschen, die von der Musik eingefangen werden kann, von nichts anderem. Das ist der tatsächliche Zauber der Musik, deshalb sagte Walter Pater, dass jegliche Kunst danach strebe, in den Zustand von Musik zu gelangen … und das kann man bei James Joyce und Gerard Manley Hopkins und Keats und Shakespeare und Hölderlin sehen, oder an einer Diagonalen in einem Madonnenbild von Cimabue – das ist das, was einem den Atem nimmt, wenn man das Gemälde betrachtet. Es ist etwas, was die innere Geografie in einem wiedergibt, man fühlt das … wie in dem Schubert-Trio, wie in Tristan .
Viele Jahre lang galt tonale Musik in Musikkreisen als überflüssig – da lediglich kulturell und ideologisch konditioniert. In Ihren Harvard-Vorlesungen haben Sie auch nach der Zukunft der Musik gefragt, und Sie beantworteten die Frage unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass die Tonalität im Wesentlichen in uns angelegt sei, und verteidigten dieses vorbestimmte und angeborene System einer musikalischen Grammatik, bekannt als Naturtonreihe. Es ist interessant, dass fast zwanzig Jahre später immer mehr Komponisten – alte und junge – immer häufiger Musik mit offenkundig tonalen Implikationen oder sogar ganz ungeniert tonale Musik schreiben. Wie würden Sie die Frage nach der Zukunft der Musik heute beantworten?
Die Rückkehr zur Tonalität scheint Wirklichkeit zu werden. Aber natürlich gibt es kein Gesetz gegen irgendeine Art von Musik und sollte es auch nie geben. Lange Zeit riefen viele Komponisten immer wieder den Tod der Tonalität aus und behaupteten, das Einzige, was man schreiben könne oder solle, sei serielle Musik. Serielle Musik, Zwölftonmusik, wilde Chromatik, Neoklassizismus, Neoromantik, Dadaismus – alle Arten von Musik können großartig sein, aber nicht unter Ausschluss der Tonalität, die – ich sagte es in meinen Vorlesungen – die Wurzeln der Musik darstellt. Ich glaube, das wird immer so sein.
Manche Leute leiten aus dem, was Sie gesagt haben, die Behauptung ab, dass Sie einfach alles auf die Tonalität reduzieren wollten. Aber ich verstehe es so, dass Sie vielmehr zu den Wurzeln oder der Verwurzelung der Dinge zurückkehren wollen.
»The Poetry of Earth« [Die Poesie der Erde]. Das war der Titel meiner letzten Vorlesung in Harvard. John Keats sagte: »Niemals ist tot der Erde Poesie.« 18 Und wissen Sie, worüber er sprach? Über eine Grille und ein Heimchen. Und wissen Sie, wie es zu seinem Sonett »Grille und Heimchen« kam? Er saß mit seinem Freund Leigh Hunt, einem sehr achtbaren Dichter, eines Abends beim Essen, und sie redeten über Feldgrillen und andere Grillen, Heimchen, die in der Nähe von Menschen leben, und dann schlossen sie eine Wette ab – nein, es war eigentlich keine Wette, sondern eher ein Spiel –, jeder sollte nach dem Essen in
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