Leonard Bernstein
mindestens –, aber jetzt hatten wir nur eine einzige Probe, doch wir wurden richtiggehend fortgetragen und erschufen dabei eine wirklich überraschende Version dieser wahren Überraschungssinfonie, denn darum geht es in diesem Werk – um Schocks und Überraschungen. Denn wenn etwas in der Partitur wiederholt wird, erscheint der Akzent genau an der Stelle, die der ersten entgegengesetzt ist – ein linker Schwinger zum Kopf, ein rechter Haken zum Körper! Und wir spielten sie zweimal in Bonn. Bei der offenen Generalprobe saßen all diese jungen Leute mit ihren Partituren im Saal, das war fast noch aufregender als das offizielle Konzert.
Wurde dieses Konzert in Bonn mitgeschnitten?
Nein, aber ich wünschte, man hätte es getan. Andererseits: Wie viele Siebte von Beethoven kann man sich anhören? Es muss mindestens fünfhundert Aufnahmen davon geben. Toscanini allein hat sie drei- oder viermal eingespielt.
Und Herbert von Karajan?
Unendliche Male! Herausgekommen ist aber nur eine weitere perfekte, glänzende Siebte von Beethoven, entstanden im Studio. Wenigstens sind meine letzten Aufnahmen immer Konzertmitschnitte gewesen.
Damit nicht die vorhersagbare langweilige fünfhunderterste Version dabei herauskommt?
Warum sonst? Natürlich hört man das Publikum husten. Aber nichts ist besser als ein Livekonzert, verglichen mit einer makellosen Studioaufnahme, die man wie ein Puzzle zusammensetzt. Ich nehme ein Livekonzert und benutze es als Grundgerüst für eine Einspielung. Natürlich müssen wir Dinge wiederholen, damit Geräusche wie Husten oder falsche Noten überdeckt werden. Aber meine neuen Alben sind im Grunde Liveaufnahmen.
Wo wir von Karajan sprechen: Hat er Sie nie gefragt, ob Sie die Berliner Philharmoniker übernehmen würden, wenn er einmal tot wäre?
Karajan bat mich auf seinem Sterbebett, dreimal: »Lenny, sie wollen dich, sie brauchen dich, sie lieben dich, du bist der Einzige!«
Aber was die Liveaufnahmen betrifft: Die Leute werden immer ins Konzert gehen, glauben Sie mir. CD s und Filme werden das Bedürfnis und das Erlebnis, zusammen zu sein, einander zu berühren und zusammen Musik zu hören, nie ersetzen können. Aber die Konzerte werden sich ganz sicher verändern. Man kann die Tradition, Abonnementkarten vom Großvater auf den Vater und den Enkel weiterzuvererben, nicht ewig beibehalten – Abo B, Abo C, Abo D. (»O Gott, ich hab’ Sinopoli, wen hast du?« »Ich hab’ Boulez.« »Hast du Bernstein?« »Nein.« »Dann tauschen wir, dein X gegen mein Y.«)
Natürlich sollte ein Orchester weiterhin Beethovens Siebte und Tschaikowskys Pathétique spielen. Wäre es nicht schrecklich, wenn es das »Museum« nicht mehr gäbe? Aber es wird sich verändern müssen, um nicht von der Bildfläche zu verschwinden. Es sollte nicht nur die Museumskonzerte geben, denen hin und wieder ein paar neuere Alibistücke beigemischt werden … oder die Alibimeisterwerke des zwanzigsten Jahrhunderts wie Bartóks Konzert für Orchester oder Strawinskys Palmensinfonie. Es müsste einfach verschiedene Arten von Museen für verschiedene Sachen geben. Es muss ein MOMA und ein Guggenheim und ein Whitney-Museum geben, und genauso ein Metropolitan Museum of Art. Und es muss andere Musikereignisse geben, neben den Konzerten der New Yorker Philharmoniker – und ich meine nicht nur das Emerson- oder das Kronos-Quartett. Die Philharmoniker selbst sollten Quartette und Kammerorchester haben – und auch Gastmusiker, zum Beispiel Absolventen der Juilliard School, die kein Engagement haben; das sind erstklassige Leute, die Musik lieben, und sie könnten ein Orchester bereichern, besonders die Philharmoniker, denn New York ist die musikalische Hauptstadt der Welt.
Und die Philharmoniker sollten auch eine erzieherische Funktion haben. Sie sollten sich nicht nur der Ausbildung junger Musiker widmen, damit diese am Ende die älteren Mitglieder des Orchesters ersetzen können, sondern auch der Erziehung ihrer verschiedenen Publikumsgruppen, zum Beispiel der Kinder oder der Senioren oder der Leute, denen vorher nur Rockmusik gefiel. Ich bin sehr traurig darüber, wie es darum im Moment steht, aber ich bin zuversichtlich, dass sich das im Lauf der Zeit ändern wird.
Ich habe gehört, dass vor zehn oder fünfzehn Jahren weltweit sechzig Prozent der Klassikaufnahmen in den Vereinigten Staaten verkauft wurden; heute sind es nur noch dreißig Prozent.
Die meisten werden in Deutschland und Japan verkauft. Aber vergessen Sie nicht,
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