Leonard Bernstein
dass in Japan alle Kinder in der Schule Unterricht in westlicher Musik erhalten. Und in unserem Land gibt es viele, aber leider nur schwache Versuche, Kindern Konzerte und Opern nahezubringen. Die Lehrer wissen nicht, wie man Kinder dafür interessiert, allerhöchstens setzen sie ihnen einmal im Jahr La Traviata oder Die Hochzeit des Figaro vor.
Und es gibt immer weniger Radiosender mit klassischem Musikprogramm. »Roll Over Beethoven« ist der Song, der unsere Zeit charakterisiert.
Gut, aber was ist mit dem Fernsehen? Ich habe im September diesen Jahres ein Konzert in Warschau geleitet – es gab eine neunzigminütige Sendung zum fünfzigsten Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs. Per Satellit wurde sie in der ganzen Welt gehört und gesehen, sogar in Ländern wie Island, Portugal und Australien. Aber bei uns müssen die Radiowellen zur besten Sendezeit minutenweise gekauft werden, und sie sind so teuer, dass der nichtkommerzielle Sender PBS sie sich nicht leisten konnte. 17
Um noch einmal auf das Orchester zurückzukommen: Glauben Sie, dass irgendeines der weltberühmten Orchester besser ist als die anderen oder dass es Orchester gibt, die einen unverwechselbaren Klang haben?
Wenn ein Dirigent vom Klang »seines« Orchesters spricht, können Sie das vergessen. Bis jetzt habe ich noch keinen Dirigenten von Haydns oder Ravels Klang sprechen hören. Eugene Ormandy berief sich gern auf den »Philadelphia-Klang«, er sagte sogar, dass es eigentlich keinen Philadelphia-Klang, sondern nur einen Ormandy-Klang gebe und dass er jedes Orchester klingen lassen könne wie das Philadelphia Orchestra. Und wahrscheinlich konnte er das tatsächlich. Aber wozu soll das gut sein?
Unter ihm warb dieses Orchester mit seinem »samtweichen Streicherklang«. Aber jemand hat mal gefragt: Wer will, dass Streicher wie Samt klingen?
Doch, manchmal will man wirklich, dass die Streicher wie Samt klingen – zum Beispiel bei Brahms oder Skrjabin. Aber wer will das bei Haydn oder in der h-Moll-Messe von Bach oder im Scherzo einer Mahler-Sinfonie?
Samtfreaks.
Genau … solche Leute können sich bei Gene Ormandy and His Velvet Strings entspannen!
Also würden Sie nicht sagen, dass es heute ein weltbestes Orchester gibt?
Entschieden nein! Wie ich Ihnen schon am Anfang sagte, habe ich keine Lieblingsorchester. Es gibt allerdings so etwas wie eine besondere Orchestertradition und sogar einen gewissen identifizierbaren Klang, der von den Instrumenten kommt, die die Musiker von ihren Großvätern oder Urgroßvätern geerbt haben, wie in Wien … und es gibt einen Unterschied zwischen französischen und deutschen Fagotten und Trompeten. Es gibt auch verschiedene Ausbildungsrichtungen. Aber selbst wenn man das alles berücksichtigt, kann und sollte jedes Orchester dazu gebracht werden, nach den Vorgaben des Komponisten zu klingen, und nicht nach den eigenen – Haydn sollte im Stil von Haydn gespielt werden, Ravel im Stil von Ravel und Mahler im Stil von Mahler … und nicht mit dem Klang des Philadelphia Orchestra oder der Berliner Philharmoniker. Ich bin gegen »eigene Klänge«. Ich habe mal ein Young People’s Concert darüber gemacht, es hieß »The Sound of an Orchestra« [Der Klang eines Orchesters].
Für Ihre neue Gesamteinspielung der Mahler-Sinfonien haben Sie mit drei verschiedenen Orchestern gearbeitet, den New Yorker Philharmonikern, den Wiener Philharmonikern und mit dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. Warum?
Weil das die drei Orchester waren, die Mahler selbst bei Aufführungen seiner Sinfonien zu seinen Lebzeiten leitete. Und sie klingen überhaupt nicht gleich. Aber sie klingen alle wie Mahler – sie weinen und beißen und streicheln und beten.
Sie haben einmal geschrieben, ein Dirigent sei »automatisch ein Narziss, wie jeder andere Künstler auch; er ist von Berufs wegen Exhibitionist«. Aber Sie sagten auch, es gebe einen Unterschied zwischen einem Dirigenten, der nur »für sich selbst« eitel sei, und einem Dirigenten, »dessen Ego sich in der Strahlkraft musikalischer Kreativität sonnt«.
Mir ist oft nachgesagt worden, ich sei ein Exhibitionist am Pult, aber alles, was ich tue, tue ich für das Orchester – was die Zuhörer von ihrer Seite aus sehen, ist ihre Sache … dafür kann ich nicht verantwortlich sein. Ich plane meine Bewegungen nicht, ich habe noch nie vor einem Spiegel geprobt. Und wenn meine Studenten fragen, was sie tun sollen, damit das Orchester eine Phrase so spielt, wie es sie bei mir
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