Leonard Bernstein
Plattenfirmen! Sie erfinden Begriffe, zum Beispiel »Soft-Acid-Funk-Fusion« oder »Blue-Reggae-Rhythm-Blues«, all diese Wortmonster …
Ich muss lachen.
Und es ist besser, darüber zu lachen, weil sie Arschlöcher sind. Jedesmal, wenn sie wieder so einen Begriff erfinden, verkaufen sie Platten … und wenn nicht, dann nicht. Es ist schrecklich, ganz schrecklich. Sie benutzen die jungen Leute nur, um Geld zu machen. Alle benutzen die jungen Leute. Und diese Kinder, die aufwachsen mit dem Wunsch nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung, wissen dann schon, wo sie diese bekommen.
Und sehen Sie jetzt den Zustand, in den Sie mich versetzt haben? In dem ich Kaugummi kaue und mir gleichzeitig eine Zigarette anzünde?
Gut, auf zur nächsten Frage.
Aber ich sollte erwähnen, dass ich vor einigen Jahren in Spanien auch ganz andere junge Leute gesehen habe, die sich auf ihrem katalanischen Dorfplatz versammelten, sich an den Händen fassten und große Kreise bildeten, um zur Musik eines Cobla-Orchesters die Sardana zu tanzen – das ist ein Tanz mit siebenundzwanzig Zählzeiten. Ich bin ein ziemlich guter Musiker, und ich konnte der Musik folgen, aber die Tanzschritte waren so kompliziert, dass ich sie nicht behalten konnte. So viel zum Thema angeborene Begabung für Musik und Tanz! Diese Leute hatten keine Ahnung, wie kompliziert die Tänze waren, die sie tanzten, sie tanzten sie einfach. Wie die Menschen in Griechenland, die diese wahnsinnig komplexen, aufgeteilten Rhythmen von Dreiachtel- plus Dreivierteltakten tanzen – all diese unglaublichen Rhythmen und Melodien, die Bartók in den Bergen von Griechenland und Bulgarien aufschrieb. Betrunkene griechische Matrosen kommen einfach in eine Taverne und fangen an, in Rhythmen von Fünfviertel- und Siebenvierteltakten zu tanzen … und die Kapelle weiß nicht einmal, dass sie das spielt. Es ist wirklich außerordentliche Musik – viel aufregender als fast alles, was die Welt der Rockmusik heute zu bieten hat, das sage ich Ihnen.
Übrigens – haben Sie mal von der nordspanischen Stadt Gerona gehört? Sie liegt in diesem bemerkenswerten Teil Kataloniens, aus dem all die Genies stammen: Picasso, Casals, Miró und Dalí. Dalís Haus und das Museum sind ganz in der Nähe, in Figueres. Ich hatte sogar einen Termin für einen Besuch bei ihm. Seine Sekretärin rief mich an und sagte, dass Dalí gerade aus dem Koma erwacht sei und den Wunsch geäußert habe, mich zu sehen. Also machten wir etwas für den Nachmittag aus, aber als ich zurückrief, um den Termin zu bestätigen, wurde mir gesagt, dass er wieder ins Koma gefallen sei. Um ein Haar hätte ich ihn noch gesehen. Aber ich ging dann in das Dalí-Museum und verbrachte zwei Tage dort, es war ein unglaubliches Erlebnis.
Ich war schon zweimal in Gerona gewesen; das erste Mal, um die Sardanas zu sehen, und das zweite Mal, um die Stadt aus dem zwölften Jahrhundert zu besuchen, die gerade ausgegraben worden war, einst eine blühende jüdische Gemeinde mit einer Synagoge, einem Friedhof, einer Mikwe – dem rituellen Bad –, einem Kanalsystem, Wohnhäusern und einer kleinen Sternwarte. Und die herausragende Persönlichkeit dieser kleinen Stadt war Rabbi Moses ben Nachman, auch unter dem Namen Nachmanides bekannt. Er war der Oberrabbiner von Katalonien; seine Anhänger sagten ihm, wie die Sterne standen, und er meditierte und sagte ihnen dann, was das bedeutete. Gerona war das erste Zentrum kabbalistischer Studien in Spanien, und Sie glauben nicht, was man dort alles gefunden hat – Gedenktafeln und sonderbare Inschriften, die inzwischen entziffert sind.
In Gerona gibt es auch eine riesige, herrliche Kathedrale, die von den Juden geschmückt und verschönert wurde – sie waren gute Goldschmiede. Hinter dem Altar war ein goldener Thron, der als heilig galt – niemand durfte darauf sitzen, weil es hieß, dass eines Tages nicht Christus, sondern Karl der Große zurückkehren würde, um darauf zu sitzen und wieder das Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches zu werden. Und alle Urkunden und Dokumente der Kirche und alle Aufzeichnungen im Geschäftsverkehr gingen durch die Hände der Juden, weil sie die Einzigen waren, die lesen und schreiben konnten. Gerona ist ein erstaunlicher Ort, Sie sollten wirklich einmal hinfahren.
Jahrelang sind viele Rock- und noch viel mehr Jazzmusiker vom Flamenco inspiriert worden. Aber in den letzten zwei Jahrzehnten haben sich eine Reihe von Rockmusikern auch nach Osten gewandt, um dort Anregungen
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