Leonard Bernstein
spielt, kann ich es ihnen nicht sagen – ich kann sie nur auffordern, selbst zu analysieren, wie ich das verursacht habe. Ich kann nicht sagen: »Legen Sie Ihren Ringfinger hierhin, und biegen Sie das Handgelenk, und halten Sie den Ellbogen gerade.« Ich habe kein Rezept und keine Methode. Ich schlage nicht den Takt, und ich erlaube es meinen Studenten nicht, das zu tun. Tatsächlich sage ich ihnen im Unterricht, sie sollen nicht diese diagonale Abwärtsbewegung auf dem dritten Schlag machen, wie es die sogenannten Dirigierlehrer tun – das ist, als würde man ein totes Pferd peitschen. Man macht Musik. Studenten rate ich, einfach auf die Partitur zu schauen und sie zum Leben zu erwecken, als wären sie selbst der Komponist. Wenn Sie das tun können, sind Sie Dirigent … wenn nicht, sind Sie es nicht. Ich habe Musiker von den Wiener Philharmonikern und den New Yorker Philharmonikern nach einem Konzert gefragt, wie Sie mir hatten folgen können, woher Sie gewusst hatten, was ich meinte, obwohl ich mich fast nicht bewegt hatte. Und sie sagen: »Wir wussten es nicht, wie haben einfach Ihre linke Augenbraue beobachtet.«
Dazu fällt mir ein, dass Hazrat Inayat Khan, ein Musiker und Sufi-Lehrer, einmal sagte: »Ein Mensch, der sich der feineren Kräfte des Lebens bewusst ist, kann sich seiner eigenen Fähigkeiten so weit entledigen, dass er zur Reflektionsfläche für einen anderen Menschen wird. Das tut er, indem er seinen Geist auf das Leben des anderen konzentriert, und dadurch entdeckt er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er muss nur seine Kamera an den richtigen Platz stellen.
Vielleicht kann ich die Kamera an den richtigen Platz stellen, weil ich auch Komponist bin, sodass ich mich leichter mit Tschaikowsky oder Mahler identifizieren kann. Vielleicht. Wenn ich nicht Brahms oder Tschaikowsky oder Strawinsky werde , wenn ich ihre Werke dirigiere, wird das zu keiner besonders guten musikalischen Darbietung führen. Es kann zu einem Konzert führen, das ganz okay oder auch miserabel ist, aber ich kann nur sicher wissen, dass ich wirklich etwas Gutes geleistet habe, wenn ich das Stück beim Dirigieren selbst erfunden habe … Es muss das Gefühl da sein, dass mir gerade jetzt die erste Idee dazu kommt [er schnippt mit den Fingern]: Ooooh, ja! Das wäre genau richtig … hier muss das Englischhorn kommen … hier ein Pizzicato in den Bässen … jetzt ein Posaunenakkord! Die andere Art, wie ich erkenne, ob es gut war oder nicht, kommt erst, wenn alles vorbei ist, denn manchmal brauche ich eine, zwei oder sogar bis zu drei Minuten, bis ich wieder weiß, wo ich bin und wer ich bin und was dieser ganze Lärm hinter mir bedeutet. Manchmal bin ich so weit weg … so weit weg.
Es klingt, als würde man sich mitten auf dem Ozean oder in der Wüste verirren.
Nein, es ist gar kein Verirrtsein. Es ist Aufgehobensein … aber weit weg. Und auch das Orchester ist weg. Wir sind alle dort. Und je länger ich brauche, um zurückzukehren – mich umzudrehen und zu verbeugen –, desto weiter weg sind wir offenbar gewesen …
Ich habe gehört, dass Sie sich ab 1959, als Sie der musikalische Leiter der New Yorker Philharmoniker wurden, immer ganz großartige Assistenzdirigenten suchten, mit denen Sie zusammenarbeiteten. Ich glaube, Seiji Ozawa gehörte auch dazu.
Er war mein erster Assistent bei den Philharmonikern. Dann Claudio Abbado. Und danach hatte ich jährlich drei – zu denen auch Edo de Waart und Herbert Blomstedt gehörten. Und im Lauf der Jahre habe ich viele junge Dirigenten unterrichtet, sowohl beim jährlichen Schleswig-Holstein-Musikfestival als auch bei den Sommerfestivals von Tanglewood.
Wie groß ist Ihrer Meinung nach die Chance, heute ein erfolgreicher Dirigent zu werden? Kann einer von tausend vielleicht darauf hoffen?
Ich weiß nicht – vielleicht einer im ganzen Universum! Aber es gibt ein paar, für die ich die Hand ins Feuer legen würde.
Irgendjemand im Besonderen?
Aber ja. Es gibt eine junge Frau namens Marin Alsop. Ich habe sie in Tanglewood unterrichtet. Sie hat unter meiner Leitung Mathis der Maler von Hindemith und die 3. Sinfonie von Roy Harris dirigiert, und sie ist fabelhaft, sie ist einfach wunderbar. Sie wird ihren Weg machen. Ich muss sie ziemlich quälen [er lacht], aber eigentlich muss ich sie alle ziemlich quälen …
Aber, Jonathan, ich glaube, ich brauche jetzt einen Tee. Wollen Sie Tee oder Kaffee?
Ich nehme einen Kaffee, aber es ist schon recht spät, ich glaube, er sollte
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