Leonardos Drachen
anfangen musste. „Ich bin einfach nicht schnell genug!“, dachte er. Und das lag natürlich daran, dass er in der letzten Nacht bis zur völligen Erschöpfung an seinem Drachen gearbeitet hatte – auch dann noch, als Clarissa längst schlafen gegangen und selbst das Gespräch zwischen Ser Piero und Melina in ihrem Schlafzimmer verstummt war.
„Andauernd hört man von Überfällen auf die Boten der Medici“, berichtete Ricardo Pazzi. „Ich möchte zu gerne wissen, wer dahintersteckt“, fügte er noch hinzu und lächelte dabei listig.
„Vielleicht tust du ja nur so unschuldig und bist selbst der Auftraggeber!“, ging es Leonardo durch den Kopf, aber natürlich hütete er sich, das laut auszusprechen. Zumindest wirkte das Gesicht von Ricardo Pazzi ganz zufrieden.
„Ich bekomme hier in meiner Werkstatt ja so gut wie nicht mit, was sich außerhalb dieser Mauern abspielt“, bekannte Meister Andrea. „Meint Ihr denn, dass die Banknoten des Hauses Medici bald nicht mehr umgetauscht werden können?“
„Also, wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich darauf achten, dass meine Kunden nur noch in Gold und Silber bezahlen und nicht mehr mit einem Wechsel, der von den Medici ausgestellt wurde“, riet Pazzi. „Aber das ist natürlich nur meine ganz private Meinung.“Dann wandte er sich an Leonardo. „Ich habe dich im ersten Moment gar nicht erkannt, aber du bist doch der Junge, den Piero de’ Medici uns als seinen edlen Retter vorgestellt und wie einen Kriegshelden in den höchsten Tönen gerühmt hat!“
„Das kann ich nicht abstreiten“, sagte Leonardo.
„Hast du eigentlich die Männer genauer gesehen, die den Überfall auf den Herrn de’ Medici begingen?“ Der Blick von Ricardo Pazzi wirkte jetzt geradezu stechend. Leonardo hatte das Gefühl, förmlich davon durchbohrt zu werden.
„Nun, warum wollt Ihr das denn so genau wissen?“, fragte Leonardo und wich der Frage damit im Grunde genommen aus.
„Es interessiert mich einfach. Und war da nicht auch noch dieses Mädchen in der Nähe?“
„Angenommen, ich hätte genau die Gesichter der Männer gesehen und könnte sie so beschreiben, dass man sie sofort wiedererkennt … Was würde sich dann ändern?“
„Dann solltest du dir ernsthafte Sorgen machen und sehr vorsichtig sein. Man sagt, die Stadt hat große Ohren. Neuigkeiten verbreiten sich hier sehr schnell, und deshalb tut jeder gut daran, genau zu überlegen, was er sagt und was er besser für sich behält …“
„Ihr könnt versichert sein, dass ich darüber sehr oft nachdenke“, sagte Leonardo vorsichtig.
„Dann ist es ja gut!“
„Eigenartig“, überlegte Leonardo. Innerhalb sehr kurzer Zeit hatten ihn jetzt schon zwei Männer daraufhingewiesen, dass es besser wäre zu schweigen. Das war schon sehr verdächtig. Zu gerne hätte Leonardo jetzt gewusst, ob der nächtliche Besuch, den sein Vater erhalten hatte, irgendetwas mit der Familie Pazzi zu tun hatte. Wenn jemand Geld genug besaß, um den Stadtherren ermorden zu lassen, dann waren es ganz bestimmt die Mitglieder der Familie Pazzi.
„Du solltest wirklich aufpassen, Leonardo“, meinte Perugino, nachdem Ricardo Pazzi gegangen war.
„Wieso sagst du das?“
„Ich war heute der Erste in der Werkstatt. Meister Andrea hat mir den Schlüssel gegeben und ich habe alles aufgeschlossen. Da kam jemand vorbei und hat nach einem Jungen gefragt, dessen Beschreibung auf dich passt.“
„Was wollte er von dir?“
„Wissen, wo du bist, wann du hier arbeitest und so weiter. Es war ein Bettler mit einem lahmen Bein, das er immer hinter sich herzog. Jemand, der für ein paar Münzen solche Fragen stellt.“
„Hast du ihm geantwortet?“
„Ich habe ihm gesagt, er soll später wiederkommen und dich selbst fragen. Der Mann hat übrigens eine Narbe an der Stirn, an der man ihn gut erkennen kann.“
L eonardo arbeitete sehr schnell. Und das hatte einen Grund. Er wollte unbedingt noch einmal zum Palast. Ihm war nämlich bei der Arbeit an dem Drachen klar geworden, dass er sich ein paar Dinge genauer ansehenmusste. Außerdem wollte er noch ein paar weitere der geheimnisvollen Zeichnungen kopieren. Dafür steckte er einen Bleistift aus der Werkstatt von Meister Andrea und ein paar Blätter ein, die er sorgfältig zusammenfaltete und unter seinem Wams verbarg.
Die Sonne war schon milchig geworden, als er die Werkstatt endlich verlassen konnte. Meister Andrea war schließlich zufrieden mit seiner Arbeit. Zunächst hatte Leonardo
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