Leonardos Drachen
nicht mehr klein genug.
Für einen Moment traf sich sein Blick mit dem des Reiters. Leonardo drängte sich vorwärts und erregte dadurch zusätzliches Aufsehen. Der Reiter trieb sein Pferd an. Ärgerliche Rufe erklangen von den zur Seite eilenden Menschen. Aber es war für den Reiter einfach nicht möglich, schnell genug durch die Menge zu kommen.
Leonardo zwängte sich zwischen den Leuten hindurch. Ein paar wilde, nicht genehmigte Marktstände versperrten den Weg. Eigentlich gab es Vorschriften darüber, wo in der Stadt Märkte abgehalten werden durften, aber gerade in den unübersichtlichen ärmeren Vierteln hielten sich die Händler oft nicht daran. Sie handelten mit dem, was man zum täglichen Leben brauchte – vor allem Brot, Brennholz und Lumpen.
Leonardo kroch unter einem der Stände durch, rappelte sich wieder auf und hetzte weiter.
„He, was soll das!“, rief der Händler irritiert. „Wer ist denn hinter dir her?“
Leonardo prallte unterdessen mit einem großen Mann zusammen, weil er zurückgeschaut hatte, murmelte eineEntschuldigung und eilte sofort weiter. Er erreichte eine lange, schmale Gasse. Leonardo schnappte nach Luft und rannte dann, so schnell er konnte.
Den kürzesten Weg zwischen Meister Andreas Werkstatt und dem Medici-Palast hatte er natürlich längst verlassen. Aber jetzt ging es erst mal darum, dem Reiter zu entkommen. In Leonardos Kopf rasten die Gedanken, während er voranhetzte. Er versuchte, sich zu erinnern, ob er den Mann unter den Banditen gesehen hatte, die am Überfall auf den Stadtherren beteiligt gewesen waren. „Es wäre möglich!“, dachte er, obwohl er sich an niemanden mit einem derartigen Umhang zu erinnern vermochte. Allerdings fiel ihm ein, dass ein solcher Umhang an einem der Pferde festgeschnallt gewesen war. Leonardo hatte das in dem Moment nicht weiter beachtet und eher geglaubt, dass es sich um eine Decke handelte. Von den Gesichtern hatte er schon wegen des Pulverdampfs kaum etwas sehen können. Außerdem war alles so furchtbar schnell gegangen.
L eonardo erreichte einen großen Platz vor einer der kleineren Kirchen in Florenz. „Zurück! Zurück!“, rief ihm ein Mann entgegen, der die Livree der Stadtwachen trug. Seine Hellebarde hielt er quer, um drängelnde Menschen zurückzuhalten. Dutzende anderer Wächter waren hier ebenfalls zu finden. Der Platz war gesperrt. Ein fleckiger Lederball flog durch die Luft. Gleich ein Dutzend Männerhände und -füße versuchten, ihn zu erreichen, während sie von den Menschen angefeuert wurden.
„Oh, nein!“, dachte Leonardo. „Calcio!“
So nannte man den Fußball, der in Florenz zwischen den Mannschaften verschiedener Stadtviertel gespielt wurde. Deswegen war der Platz also gesperrt – und Leonardo saß in der Falle. Vorwärts konnte er nicht, da standen die Wächter mit ihren Hellebarden, die die Zuschauer auf Abstand hielten. Und hinter ihm musste jeden Moment der Reiter im blauen Umhang auftauchen.
Ein ohrenbetäubender Lärm brandete im Publikum auf, als der Ball im Tor landete. Dass dabei die Hand zu Hilfe genommen wurde, war nicht gegen die Regeln. Als Tore dienten zwei halb offene Zelte an beiden Enden des Platzes. Früher hatte man dazu die Tore der verschiedenen Stadtviertel benutzt und das Spielfeld waren jeweils die gesamten Viertel gewesen. Aber erstens hatten so nur benachbarte Viertel gegeneinander spielen können und zweitens hatte es dabei auch immer große Schäden gegeben. Seitdem es mehr und mehr üblich geworden war, Fenster mit Glas zu verkleiden, war der Calcio nur noch auf bestimmten Plätzen erlaubt. Die Spieler trugen verschiedenfarbige Hemden, die allerdings im Laufe des Spiels ziemlich zerrissen wurden. Den Gegner festzuhalten war nämlich erlaubt. Manchen hing das Hemd in Fetzen vom Leib, andere standen schon mit freiem Oberkörper da.
Das gerade gefallene Tor hatte offenbar Meinungsverschiedenheiten ausgelöst. Leonardo gelang es, sich etwas weiter nach vorne zu drängeln, sodass er direkt vor einem der Wächter stand. So konnte er sehen, wie einer der Spieler mit der Faust auf ein Mitglied der gegnerischenMannschaft losging und ihn mit zwei derben Hieben niederschlug. Dessen Mannschaftskameraden griffen sofort ein, und es entstand ein Handgemenge. Der Schiedsrichter griff zum Schwert. Er trug nicht umsonst sein Schwert, denn anders hätte er sich kaum durchsetzen können. Er versetzte dem Übeltäter einen Schlag mit der flachen Seite des Schwertes und stichelte ihn
Weitere Kostenlose Bücher