Leonardos Drachen
die Müdigkeit noch stark zu schaffen gemacht. Einige der Skizzen von Ricardo Pazzi waren auch nichts geworden und deshalb war er ziemlich heftig von Meister Andrea ausgeschimpft worden. Aber danach war dann alles gut gegangen. Und zum Glück hatte ja auch der Meister selbst ein paar Skizzen angefertigt, nach denen gearbeitet werden konnte.
Als Leonardo die Werkstatt verließ, bemerkte er auf der anderen Straßenseite in einer Türnische den hinkenden Bettler, den Perugino beschrieben hatte. Als er Leonardo sah, tauchte er sofort hinter die Ecke und verschwand völlig in der Nische.
Leonardo ging auf ihn zu. Er hatte keine Lust, sich von ihm beschatten zu lassen. Nein, er wollte wissen, wer ihn geschickt hatte und was er von ihm wollte!
Der Mann saß zusammengekauert in der Türnische auf einer Stufe, als Leonardo ihn fand. Die Narbe auf seiner Stirn war sehr deutlich zu sehen. Kein Zweifel, das war der Mann, von dem Perugino gesprochen hatte.
„Du hast dich nach mir erkundigt“, stellte der Junge fest.
„Du täuschst dich, junger Herr!“
„Man hat es mir aber gesagt! Und jetzt hast du mich beobachtet und darauf gewartet, dass ich die Werkstatt verlasse.“
„Auch das ist ein Irrtum“, behauptete der Hinkende. „Ich sitze hier nur und gehe der einzigen Arbeit nach, die mir mein lahmes Bein gestattet. Ich bettle! Und falls du nichts für mich hat, wäre es nett, wenn du einfach weitergehst, denn sonst vertreibst du mir noch all jene Passanten, die es als Dienst an unserem Herrn Jesus ansehen, den Lahmen zu helfen!“
Leonardo ging davon.
Hatte Perugino sich da vielleicht doch nur etwas eingebildet oder einfach nur nicht richtig verstanden, was der Bettler von ihm gewollt hatte?
Nachdem Leonardo um die nächste Ecke gebogen war, ging er noch einmal zurück. Vorsichtig lugte er hinter einem Mauervorsprung hervor und sah, wie der Bettler mit einem Ritter sprach, der sein Pferd gezügelt hatte und sich niederbeugte.
Der Mann trug einen weiten, dunkelblauen Umhang, der kaum erkennen ließ, wie er darunter gekleidet war. Aber am Sattelzeug war eine Hakenbüchse festgemacht und außerdem ragte die Spitze eines Schwertes unter dem Umhang hervor. Die Hakenbüchse sah man nur deswegen, weil die Decke etwas zur Seite gerutscht war, mit der die Waffe eigentlich eingewickelt worden war. Der Mann hatte also einen längeren Ritt hinter sich, wofür auch der viele Staub an seiner Kleidung sprach. Sein Gesicht war breit und das Haar quoll in Locken unter einer tellerförmigen Ledermütze hervor, wie sie viele Leute trugen.
Dann sahen beide – der Bettler und der Mann mit dem dunkelblauen Umhang – in Leonardos Richtung. Der Bettler fuchtelte dabei auf eine Weise mit seinen Armen, als würde er dem Reiter den Weg beschreiben. Leonardo zuckte augenblicklich zurück und lief weiter.
Er ging durch die Straßen und nahm dabei den kürzesten Weg zum Palast. Der führte geradewegs durch ein Viertel mit engen Gassen hindurch, in dem die Häuser sehr niedrig waren und dicht beieinanderstanden. Hier lebten viele Tagelöhner und ärmere Leute. Auch viele Lastenträger, Fuhrleute und Söldner der Stadtwache hatten hier ihre Wohnungen.
S chon als er das Viertel erreichte, glaubte er, dass ihm jemand folgte. Der Reiter im dunklen Umhang war hinter einer Straßenecke aufgetaucht und hatte suchend den Blick schweifen lassen. Leonardo beeilte sich. Er lief in eine Nebengasse, dann zwischen zwei sehr eng beieinanderstehenden Häusern hindurch. Hier konnte kein Pferd durchreiten, so glaubte er. Kleine Kinder, Hunde und ein Mann mit einem breiten Bauchladen kamen ihm entgegen. Im Bauchladen war alles, was ein Schuhputzer brauchte. Leonardo musste sich tief bücken, um unter dem Bauchladen hindurchzutauchen, denn sonst wäre er nicht an dem Mann vorbeigekommen. Schließlich erreichte er wieder eine richtige Straße. Die Menschen drängten sich hier und Leonardo versuchte, so gut es ging, sich seinen Weg zu bahnen.
Der Reiter im blauen Umhang war allerdings auch dort. Er ragte über die Menge hinweg und war offenbarüber eine breitere Nebenstraße hierher gelangt. „Also ist er jemand, der sich auskennt“, ging es Leonardo durch den Kopf. Jemand, der vermutlich in den Straßen von Florenz aufgewachsen war oder dort zumindest lange gelebt hatte. Das Pferd wieherte, und der Reiter ließ suchend den Blick kreisen. Leonardo konnte nur hoffen, dass man ihn in der Menge nicht sah. Aber dazu war er mit seinen dreizehn Jahren einfach
Weitere Kostenlose Bücher