Leonardos Drachen
zu sein, Ser Piero. Jetzt drängt die Zeit. Aber ich weiß, dass Ihr das Ohr des Stadtherrn habt. Also redet mit ihm – in seinem eigenen Interesse!“
„Salvatore Vespucci!“, entfuhr es Leonardo. „Ich erkenne Euch nicht nur an der Stimme, sondern auch an Euren Schuhen, in deren Spitzen sich selbst das Mondlicht noch spiegelt!“
Ein Ruck ging durch die Gestalt.
„In den nächsten Tagen werde ich Euch aufsuchen und Eure Antwort erwarten. Und haltet Euren vorlauten Sohn im Zaum. Es ist auch in Florenz schon so mancher einen Kopf kürzer gemacht worden, der seinen Mund nicht halten konnte …“
M it diesen Worten enteilte der Mann im Kapuzenmantel in die Nacht. Ser Piero legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter, denn er spürte, dass dieser den Drang hatte, dem Mann zu folgen.
„Es war Salvatore Vespucci, da bin ich mir sicher! Ich kenne seine Stimme, weil er in Meister Andreas Werkstattwar, um seinen Sohn Amerigo malen zu lassen und außerdem ein Bild abzuholen.“
„Mag sein“, sagte Ser Piero – eigenartigerweise wenig interessiert.
„Ich hätte allerdings zu gerne sein Gesicht gesehen! So bleibt immer ein Rest von Unsicherheit.“
„Leonardo …“
„Es könnte ja auch ein anderer Mann aus der Familie Vespucci sein. Vielleicht gibt es da noch einen Bruder oder Onkel, ungefähr im selben Alter. Die Stimmen können da manchmal sehr ähnlich sein und …“
„Leonardo!“, fuhr Ser Piero jetzt etwas energischer dazwischen. „Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen.“
„Wirst du denn diese Botschaft an den Stadtherrn ausrichten? Vielleicht weiß dieser Vespucci ja etwas über die Verschwörung, die im Moment gegen den Stadtherrn in Gange ist!“
„Ja, das ist möglich“, gab Ser Piero zu. „Aber genauso ist es möglich, dass er gar nichts weiß und sich nur den Schutz der Medici-Familie erschleichen will, weil er sich mit seinem bisherigen Schutzherrn überworfen hat!“ Ser Piero seufzte schwer. „Ich weiß noch nicht, was ich tue.“
„Und wenn der Herr de’ Medici dich einfach nur auf die Probe stellen will?“, mischte sich nun Melina an Ser Piero gewandt ein. „Könnte doch sein. Niemand von euch hat das Gesicht dieses Mannes gesehen und solche Stiefel kann sich jeder machen lassen und dann damit herumlaufen!“
S ie gingen ins Haus.
Leonardo konnte – wie üblich – nicht schlafen. Ser Piero und Melina allerdings auch nicht. Er hörte seinen Vater und dessen Frau im Schlafzimmer reden, als er sich auf den Flur schlich, um sich noch dies und das zusammenzusuchen, was er für den Bau seines Drachens brauchte. So holte er sich insbesondere eine Spule mit Nähgarn, denn er hatte sich überlegt, dass es das Beste war, einen sehr dünnen Faden zu nehmen, um den fertigen Drachen zu halten. Für die Holzkonstruktion nahm er einige der feinen, sehr dünnen, aber dafür biegsamen Stäbe aus einem Gitter, das sich an der Rückseite des Hauses befand und an dem eigentlich Wein emporranken sollte. Die Tür knarrte etwas, als er hinaustrat. Aber glücklicherweise bemerkte ihn niemand.
Als er in sein Zimmer zurückkehrte, wartete dort bereits Clarissa auf ihn. Sie hatte schon ihr Nachthemd angezogen, während Leonardo noch keinerlei Anstalten machte, sich für die Nacht fertig zu machen.
Und das, obwohl es nur noch ein paar Stunden dauern würde, bis die Sonne wieder aufging und der Morgen anbrach. Er konnte nur hoffen, dass am nächsten Tag keine schwierigen Aufgaben in der Werkstatt von Meister Andrea auf ihn warteten. Ein falscher Strich konnte nämlich unter Umständen ein ganzes Gemälde und damit auch die Arbeit mehrerer Gesellen, Lehrlinge und des Meisters selbst in einem einzigen unbedachten Augenblick zunichtemachen.
Aber der Drachen war Leonardo im Augenblick einfach wichtiger.
Clarissa sah auf das Garn und die Holzstäbe, die er mitgebracht hatte, und runzelte die Stirn. „Das ist nicht dein Ernst!“, meinte sie völlig entgeistert.
„Doch, ich kann dir das erklären!“
„Du wirst Melina vor allem erklären müssen, warum der Wein morgen von der Wand herunterhängt, und kannst nur darauf hoffen, dass sie gerade nichts zu nähen hat!“
„Clarissa, so lange habe ich darüber nachgegrübelt, wie man einen Menschen zum Fliegen bringen könnte. Immer wieder habe ich die Vögel, die Bienen, die Fliegen und was sonst noch so alles in der Luft herumschwirrt genauestens beobachtet, ohne das Geheimnis wirklich erfasst zu haben! Und was muss ich
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