Léonide (German Edition)
Richtungen abstehen. Er seufzt und schiebt sich die Hemdsärmel über die gebräunten Unterarme zurück. »E i ne der Schwestern hat mir erzählt, Willem habe den N a men seines Besuchers genannt – zum ersten Mal überhaupt. Sie glaubt, dass Willem schreckliche Angst vor ihm hatte.«
»Wie lautet der Name?«
Frédéric wischt sich den Schweiß von der Stirn. Im Gege n satz zu der Kälte in meinem Inneren scheint ihn ein alles ve r zehrendes Fieber gepackt zu haben. Es ist, als würde das Licht der provenzalischen Sonne in seinen Augen brennen.
»Versprechen Sie mir, nichts Unüberlegtes zu tun?«
Ich gehe nicht darauf ein. »Wie hieß er – sein Besucher?«
Draußen beginnt es zu regnen. Zuerst trommeln nur einze l ne Tropfen gegen das Fenster, dann schlägt der Regen in e i nem einzigen Rauschen gegen die Scheiben. Das Licht im Flur ist dämmrig, verschwommen.
»Ihr Bruder hat halluziniert, er wusste nicht, was er sagte. Vielleicht gab es seinen Besucher in Wirklichkeit gar nicht.«
»Der Name?«, wiederhole ich.
Frédérics Ausdruck verhärtet sich. Er sagt nur ein einziges Wort und doch umfasst es alles.
»Costantini.«
ZWEITER TEIL
Schwarzblaue Nacht
Ich fühle eine Kraft in mir, ein Feuer, das ich nicht ausl ö schen darf, sondern schüren muss, obgleich ich nicht weiß, zu we l chem Ende es mich führen wird und mich über ein düst e res nicht wundern würde.
VINCENT VAN GOGH
an Theo van Gogh, Den Haag, November 1882
Gewittersturm
Beaucaire, Oktober 1888
D
as Zimmer ist mir noch immer fremd, obwohl seit meiner Ankunft bereits drei Tage verga n gen sind. Beaucaire. Ich blicke aus dem Fen s ter, doch die dahinter liegende Gasse versperrt mir die Sicht auf die Natur, die Menschen und ihr Leben. Ich weiß nicht, warum mein Blick trotzdem immer wieder zum Fenster wa n dert. Vielleicht ist es die Hoffnung, plötzlich das zu sehen, was ich in Arles gesehen habe: rotgoldenes Abendlicht, das sich über die Hausdächer ergießt; Fäden silbernen Regens, die g e gen die Glasscheiben prasseln und die Räume in mildes Dämmerlicht tauchen; der Anbruch des T a ges in blendendem Weiß, hellem Blau und brennendem Gelb. Von diesem Fenster aus ersche i nen die Tage dagegen trübe und farblos, die Welt braun, schwarz und grau wie die u r sprünglichen, erdhaften Bilder der Holländer. Mauern verspe r ren den Blick auf die kupferroten Hausdächer Beaucaires, auf das milde Herbstlicht, die Stiftskirche Notre-Dame-des-Pommiers und die Burg Beaucaire und schirmen das Licht so zuverlässig ab, dass kein einziger So n nenstrahl das Pflaster der Gasse erreicht. Obwohl mich keine Fenstergitter von der A u ßenwelt trennen, fühle ich mich wie eine Gefangene – wie Willem sich in Saint-Paul-de-Mausole gefühlt haben muss.
Willem . Sein Tod scheint in weiter Ferne zu liegen, doch ich kann ihn nicht vergessen, habe noch immer nicht begriffen, nichts von alldem verarbeitet. Die Zeit ist eingefroren, hat i h ren Lauf vergessen, sie scheint noch immer stillzustehen. Ich weiß nicht, wann alles um mich herum – die Menschen, die Natur, Lachen und Schreien, Sonne und Regen, Tag und Nacht – bedeutungslos geworden ist. Oder vielleicht doch . Es war der Moment, in dem ich das Schaf erblickte. Der M o ment, in dem Frédéric meine Hände nahm und seine bre n nenden Augen mir, noch ehe er den Mund öffnete, alles sa g ten. Der Moment, in dem er seinen Namen aussprach . Costa n tini . Es waren viele Momente und keiner.
Statt lange Spaziergänge nach Montmajour zu unternehmen, bin ich zu Hause geblieben und habe beobachtet, wie die Tage dunkler wurden. Das Bild des gegen die Fensterscheiben pra s selnden Regens hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt, ohne ein Gefühl in mir zurückzulassen.
Während meine Eltern in Tränen zerflossen, habe ich nur einmal geweint: als Frédéric mir die Nachricht von Willems Tod überbrachte. Seitdem beherrscht mich eine Starre, in der nichts mehr von Bedeutung ist, weder die Menschen um mich herum noch das Aufbäumen der Natur gegen die stille Kraft des Herbstes. Der Schmerz hat gründliche Arbeit geleistet. Seine Wellen haben an mir geleckt und mich in die Tiefe gez o gen. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder auftauchen we r de.
Bei Willems Beerdigung waren nur meine Eltern, Frédéric und ich zugegen. Wir haben nicht darüber geredet, mit ni e mandem, ob aus Rücksicht oder Scham, kann ich nicht sagen. Ich erinnere mich an das Bild des im Sarg
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