Léonide (German Edition)
liegenden Willem, die eine Hälfte seines Gesichts trotz der Bemühungen der Schwestern in Saint-Paul-de-Mausole noch immer geschwärzt, die Schläfe nicht mehr als Fleisch und Blut. Sie hatten sein Auge ein letztes Mal frisch verbunden, vielleicht aus Respekt für Willem, vielleicht aus Rücksicht gegen uns. Als ich an den Sarg herantrat, um mich von meinem Bruder zu verabschi e den, verschwamm das Bild vor meinen Augen und wurde zu einem anderen. Willems Gesicht erschien mir wieder makellos. Da war keine Verletzung, die ihn das Leben gekostet hatte; es musste bedeuten, dass er noch lebte. Ich verharrte regungslos; ich wusste, wenn ich mich bewegte, wäre es vorbei.
Mein geliebter Bruder und seine sanften Malerhände, erka l tet, nicht mehr in der Lage, einen Pinsel zu halten oder Farbe auf eine Leinwand aufzutragen. Das ist vielleicht das Verwi r rendste an allem , d ass ich ihn noch immer sehen kann, er mich aber nicht. Dass er nie wieder mit mir sprechen oder mich zu einem seiner Ausflüge mitnehmen wird. Meine Ahnung – oder Befürchtung? –, dass es schon bald so sein wird, als hätte es ihn nie gegeben, hat sich nicht bestätigt . S tattde s sen haben all die Dinge, die er jemals zu mir gesagt, seine Gemälde und selbst die Krankheit, die ihn in den letzten Wochen seines L e ben beherrscht hat, Spuren hinterlassen. Vielleicht ist es einf a cher, mit einem Verlust zu leben, wenn es Erinneru n gen gibt, an die man sich klammern kann. Vielleicht machen sie aber auch alles nur unerträglicher.
Als ich an Willems Sarg stand und beobachtete, wie sein G e sicht sich in das zurückverwandelte, was es im Leben gewesen war, zerbarst etwas in meinem Inneren wie Spiegelglas, das dem Druck unzähliger Schläge nicht mehr standhält. Mein Blick fiel auf seine Hände, die sich zu braunen Knoten z u sammengeballt hatten. Auf der Haut sah ich Spuren von r o tem Sand, der seinen Händen einen merkwürdig kränklichen Ockerton verlieh.
Ein Gedanke huschte mir durch den Kopf, doch ich bekam ihn nicht zu fassen – er entwischte mir wie ein sich in den Händen windender Fisch oder Sand, der durch die Finger rinnt.
An die Tage nach der Beerdigung kann ich mich kaum noch erinnern – es ist, als lägen sie hinter einer unüberwindbaren Mauer verborgen. Lediglich ein Ereignis steht mir noch immer deutlich vor Augen: ein Besuch von Frédéric.
Nach Willems Tod, in jenen Stunden, die ich einsam vor meinem Fenster sitzend verbrachte, hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Es gibt Fragen, auf die ich Antworten suche . Fragen, die sich nicht wegschieben lassen und die, das weiß ich, die Zeit nicht fortwischen wird. Was ist mit Willem g e schehen? Was hat Costantini mit alldem zu tun?
Nur langsam haben sich die scheinbar zusammenhanglosen Teile des Rätsels zu einem großen Ganzen zusammengefügt. Costantini . Die Geschichten über seine Versuche am lebenden Körper wollen mir nicht mehr aus dem Sinn, haben sich in mir verfangen wie Klingen mit Widerhaken. Ich bin mir sicher, dass er in dem, was geschehen ist, eine Rolle zu spielen hatte, vielleicht noch zu spielen hat. Er hat mir, aus welchen Bewe g gründen auch immer, ein wirkungsloses Medikament ve r kauft und Willem mit seinen Besuchen immer tiefer und tiefer in den Abgrund getrieben, in den Wahnsinn, in den Tod. Er wollte ihm nicht helfen, wollte es nie. War auch er es, der me i nem Bruder den Revolver überlassen hat, mit dem er seinem Leben ein Ende setzte?
Als ich meine Vermutungen Frédéric mitteilte, verriet sein Gesichtsausdruck Besorgnis. »Aber … welches Interesse sollte Costantini am Tod Ihres Bruders gehabt haben? Wie können Sie wissen, dass Willem denselben Costantini gemeint hat, dem Sie die Arznei abgekauft haben?«
»Er hat ganz sicher denselben Costantini gemeint«, erwiderte ich ausweichend. Was Frédérics Frage nach Costantinis Int e resse an Willems Tod anging, war ich mir allerdings weniger sicher. »Vielleicht hat es etwas mit seiner Arbeit als Alchimist und Mediziner zu tun«, spekulierte ich. »Was auch immer seine Gründe gewesen sein mögen, ich werde herausfinden, was passiert ist.«
»Léonide.« Frédérics Tonfall schwankte zwischen Verzwei f lung und Resignation. »Bitte … ich habe Sie bereits darum g e beten und bitte Sie noch einmal: Tun Sie nichts Unüberle g tes. Wenn Willem tatsächlich denselben Costantini gemeint hat, müssen Sie umso vorsichtiger sein. Ich kenne Costantini nicht und misstraue ihm trotzdem. Sie wissen, was für G e
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