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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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heran. Seine Finger graben sich in den weißen Stein, dann schwingt er sich hinauf. Sein Ma n tel schmiegt sich wie eine zweite Haut an seinen Körper.
    Unter dem festen Verband juckt meine Wunde. Die Welt verschwimmt vor meinem Auge, löst sich in einem Wirbel aus Farben auf und wird in einem einzigen Bild wiedergeboren: einem Danse Macabre , der eine Gruppe tanzender Toter in einer verwitterten Felsenlandschaft zeigt. Über allem, am Hang einer schroffen Felsformation, thront ein Dorf aus we i ßem und sandfarbenem Stein. Ich kenne den Ort und den charakterist i schen Kalkstein der Landschaft. Olivenbäume, Pinien und Kermeseichen schmiegen sich sehnsüchtig an die steilen Felswände.
    Als die Sicht meines Auges sich wieder klärt, hat er – der unerwünsc h te Besucher, den ich nie in mein Leben eintreten hätte lassen sollen – mein Fenster erreicht. Sein Gesicht ist wie Wachs, in das ein Künstler mit e i nem Modelliermesser Falten geschnitten hat, und wirkt doch kraftvoll, fast jugendlich. Seine Augen sind hellblau wie Feuer und Eis, und o b wohl ich sie schon so oft gesehen habe, kann ich mich nicht sattsehen an ihren klaren Ausdruck.
    »Gibst du mir ein Leben?«, singt er und hebt die Hand. Ich erschrecke über die Kälte des Metalls, als ich den Revolver entgegennehme. Vor me i nem inneren Auge erscheinen Bilder aus einem Leben, das meines hätte sein können – Bilder eines Lebens ohne Costa n tini, ohne Selbstzweifel und Angst, aber auch ohne die Malerei.
    Das Fenster rahmt Costantinis abwägendes Gesicht hinter den Gitte r stäben ein. Die Waffe liegt schwer in meiner Hand. Langsam, beinahe zärtlich streiche ich über die Trommel und den Lauf. Dann spanne ich den Hahn und setze den Lauf an meine linke Schläfe. Über meinen Gedanken schwebt der Entschluss, nicht zu zögern. Niemals mehr werde ich um meiner geistigen Gesundheit willen leiden; der Schmerz wird e n den, sobald ich abdrücke – zumindest für mich. Der Gedanke, dass mein Tod neuen Schmerz verursachen könnte, kommt mir zwar, erscheint mir aber lächerlich.
    »Du wirst Farben sehen, wie du sie nie zuvor gesehen hast«, lockt Costantini. »Fremde Formen und Linien. Es wird sein, als würdest du in einem deiner Gemälde spazieren gehen.«
    Mein Finger zittert über dem Abzug, meine Stirn ist schweißbedeckt. Der Gedanke an einen schmerzhaften Tod macht mir Angst, aber mehr noch fürchte ich den an ein Leben, das leer und aussichtslos ist. Ich mache einen letzten Atemzug. Mein Finger drückt den Abzug.
    Der Schmerz in meiner Schläfe ist weiß und grau wie das Gefühl des Betrogen- oder Nichtverstandenwerdens. Das Letzte, was ich sehe, ist Costantinis von lavendelblauen Fensterläden eingerahmtes Gesicht und sein Lächeln.
    Dann Leere, Stille. Nichts.
     
    Am späten Nachmittag mache ich einen Spaziergang, der mich wieder nach Montmajour führt. Der Blick auf die Wei n berge, Weizenfelder und die blauen und violetten Kuppen der Alpi l len, die still in der brütenden Hitze liegen, beruhigt mich. Hi n ter mir erstreckt sich das weiße Gemäuer der Abtei, vor mir wogende grüne Wiesen und, weit in der Ferne, Arles mit se i nen kupferroten Dachfirsten und der in der Sonne glitzernden Rhône . Lange Zeit bleibe ich sitzen, beobachtete die Eidec h sen, die aus ihren Verstecken unter und zwischen Steinen und Mauerwerk linsen und durch das trockene Gras fli t zen, und lausche dem Gesang der Zikaden. Die Sonne brennt mir ins Gesicht und mir wird schwindelig. Eine Weile döse ich auf den warmen Steinen. Als ich aufwache, dämmert es b e reits. Ich raffe meine wenigen Habseligkeiten zusammen und mache mich auf den Heimweg.
    Am Rand einer grünen Hügelkuppe passiere ich eine Scha f weide, aus deren Richtung mir ein fauliger Geruch entgege n schlägt. Verwesung. Mir wird übel. Ich kneife die Augen gegen die verblassende Sonne zusammen und erkenne sofort, was nicht in Ordnung ist.
    Auf der Weide liegt wie ein Mahnmal ein totes Schaf – auf der Seite, die Beine ausgestreckt, die Augen aufgerissen. Die Rippen treten deutlich hervor, während der Bauch wie eine unnatürlich pralle Kugel absteht. Die anderen Schafe grasen in weiter Entfernung, scheinbar darauf bedacht, dem verwese n den Tier nicht zu nahe zu kommen.
    Im Westen versinkt die Sonne am Horizont.
    Der Anblick verstört mich mehr, als ich mir eingestehen will. Hastig laufe ich weiter, wie getrieben von einer inneren Sti m me, die mir sagt, dass etwas geschehen ist und es nichts Drin g licheres

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