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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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rückt halten könnte – dass er annehmen könnte, die Krankheit me i nes Bruders warte te nur darauf, einen Weg zu finden, um auch aus meinem Inneren an die Oberfläche zu dringen. Allein der Gedanke, seine Freundschaft zu verlieren …
    Als die Tage vergingen, wuchsen Leere und Aussichtslosi g keit. Ich wusste nicht, was ich tun, wie und wo ich meine S u che beginnen sollte. Ich wusste noch nicht einmal, ob das, was ich tat, das Richtige oder ein Anzeichen drohenden Realität s verlusts war. Meine Eltern, die nicht mehr ein und aus wus s ten, schlugen vor, mich für einige Wochen zu meiner Tante, Adélaïde Géroux, nach Beaucaire zu schicken. Sie baten mich, sie über Willems Tod in Kenntnis zu setzen, ihr G e sellschaft zu leisten, die Trauer über den Verlust mit ihr zu teilen. Sie begriffen nicht, dass es nichts zu teilen gab , dass die Zeit me i ne Wunden nicht heilen würde, dass der Schmerz von Tag zu Tag schwerer und schwerer zu ertragen war. Er war ein G e wicht auf meinen Schultern und in meiner Brust, und es last e te schwer auf mir . I ch blickte zu B o den und begriff, dass ich fallen würde, doch ich konnte mich nicht wieder aufric h ten, war nicht stark, nicht eisern genug.
    Obwohl sich alles in mir gegen eine Reise nach Beaucaire und gegen den Gedanken sträubte, den Ort zu ve r lassen, über dem noch immer der Geist meines Bruders schwebte, stimmte ich um meiner Eltern willen zu. Nicht um meinetwillen; ich tat es, um ihnen nicht weiter zur Last zu fa l len.
    Die Stadt Beaucaire ist nicht allzu weit von Arles entfernt – die Fahrt dauerte nicht länger als eine Stunde. Nun bin ich also hier, im Haus meiner alleinstehenden Tante, und fühle mich einsamer denn je. Ich habe mich geirrt . Zwar habe ich Arles verlassen, doch der Geist meines Bruders ist mir gefolgt, er lässt mich nicht allein, nicht tagsüber, nicht des Nachts; er ist bei mir, wenn ich esse und schlafe; er flüstert mir zu, wenn ich mich setze, um mich auszuruhen.
    Das Haus meiner Tante liegt in einer der vielen engen Ga s sen Beaucaires, die die Stadt wie die Gänge und Tunnel eines Maulwurfs durchziehen. Tag und Nacht hängt der Geruch menschlicher Ausdünstungen in der Luft, vermischt mit den Essensgerüchen der Restaurants und Märkte. Katzen streunen über das schmutzige Kopfsteinpflaster oder sonnen sich im Herbstlicht der mediterranen Sonne. Hoch in den Gassen spannen sich lange Leinen von Haus zu Haus, auf denen an warmen Tagen die frische Wäsche der Anwohner hängt.
    Meine Tante lebt ein einfaches Leben inmitten des u n steten Gewusel s der Menschen. Ihr Haus ist schlicht und zweckm ä ßig eingerichtet, keins ihrer Stücke verrät Wohlstand, sie trägt keinen Schmuck oder teure Kleidung, doch sie ist immer g e pflegt. Ihr Haar steckt sie jeden Tag zu einem grauen Knoten auf, und sie benutzt ein feines Parf ü m , das sie sich auf die I n nenseiten ihrer Handgelenke tupft und das den Duft von Ch e vrefeuille verströmt.
    Adélaïdes Entsetzen über Willems Tod ist nicht gespielt, ich sehe die Trauer als weißen Schleier in ihren Augen, sehe sie in der Art, wie sich ihre Mundwinkel bewegen, wenn sie mich zu trösten versucht. Sie durchbricht die Mauer meiner Gleichgü l tigkeit . I ch esse von ihrer Gemüsesuppe und trinke Weißwein und tue es zum ersten Mal seit L angem nicht nur für jemand anderen, sondern auch für mich selbst.
    Doch gegen meine Schlaflosigkeit und die Albträume kann selbst sie nichts ausrichten.
     
    Ich verbringe die Tage mit langen Spaziergängen durch Stadt und Umgebung. Beaucaire ist ein Ort von bizarrer Schönheit, die nicht so augenfällig ist wie die von Arles. Es ist, als hätte sich ein Schleier aus Staub und Dreck über ein Schmuckstück gelegt, das gewöhnlich und wertlos aussieht, bis die Sonne im richtigen Winkel darauf trifft. Genauso liegen über Beaucaire Staub und Asche und ein Gestank, den selbst der Herbst nicht vertreiben kann. Nur hin und wieder blitzt zwischen alldem etwas hervor, vielleicht ein Flüstern aus vergangenen Zeiten und fernen Stunden, vielleicht die Schönheit der Natur in der leuchtenden Farbe einer Oleanderblüte.
    Meine Ausflüge führen mich besonders häufig die verwitte r ten Stufen zur Burg Beaucaire hinauf. Dort setze ich mich auf eine Bank oder ein niedriges Mäuerchen und beobachte die Bewegungen des Lichts auf den roten Dächern und in den verwinkelten Gassen. Den Rest der Zeit verbringe ich lesend und schreibend, die Gedanken an Willem und Costantini, an

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