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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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gibt, als nach Hause zurückzukehren. Also laufe ich, laufe über Felder, trockenes Gras und Piniennadeln, die ihren Duft ausströmen, während mein Herz einen mir bis dahin u n bekannten Rhythmus schlägt.
    Wind kommt auf. In der Ferne Kirchengeläut. Dann ve r dunkelt sich der Himmel über den zitronengelben Feldern. Die Farben: zuerst Blau, dann Schwarz. Saatkrähen kreisen wie Geister über der Schafweide.
    Vor unserem Haus wartet eine schwarze Droschke. Als ich die Tür öffne, laufe ich beinahe in Frédéric hinein, der gerade mit meinem Vater spricht.
    »Was ist los?« Mir entgehen nicht die Verwirrung und das Unbehagen in Frédérics Blick, das meine Gefühle widerz u spiegeln scheint.
    »Léonide«, sagt mein Vater, »bitte lass Frédéric und mich a l lein.« Mit einem Blick auf die Tür, die ins Wohnzimmer führt, fügt er hinzu: »Deine Mutter braucht Gesellschaft.«
    Noch immer ist ein stechender Schmerz in meiner Brust. Mein Magen rebelliert. Das Gefühl, das mich nicht verlassen hat, seit ich das tote Schaf auf der Weide gesehen habe, ballt sich zu Erregung und Angst zusammen.
    »Was ist passiert? Ich weiß, dass etwas passiert ist!«
    Frédéric legt mir eine Hand auf die Schulter, doch der wa r me Druck beruhigt mich nicht. Ich kann nicht atmen und mein Gesicht brennt – ich weiß nicht, ob vor Erschöpfung durch das Laufen oder vor Zorn.
    Frédéric wendet sich an meinen Vater. »Théodore, dürfte ich einen Augenblick mit Léonide sprechen?«
    Einen Moment lang glaube ich, dass mein Vater Frédéric seine Bitte abschlagen wird, doch nach kurzem Zögern ve r lässt er den Flur. Das ändert allerdings nichts daran, dass ich seine Missbilligung spüre und seinen Widerwillen.
    Frédéric nimmt meine Hände. Als sich unsere Blicke treffen, erstarre ich . In seinen Augen brennt ein Feuer, dunkel und sengend, und meine Angst verwandelt sich in Panik.
    »Dein Bruder ist tot.«
    Nein, das ergibt keinen Sinn. Ich verstehe nicht. Wie kann er denn … wie kann er … ?
    Vor meinen Augen verschwimmt der Flur wie ein Aquarell im Regen. Mein Körper ist kalt, von den Zehen bis zu den Fingerspitzen kalt. Tot, höre ich eine Stimme. Dein Bruder, Willem … tot.
    »Léonide.« Frédérics Stimme klingt leise und unsicher. Hilflos, obwohl er als Arzt Erfahrung mit Krankheit und Tod h a ben muss.
    Ich spüre kaum, wie ich gegen ihn sinke. Auch nicht, wie seine Hände mich packen, als ich zu fallen drohe. Mein Kopf sinkt auf seine Schulter, und endlich, endlich begreife ich, und ich weine, weine um Willem und die Bilder, die er nie malen wird, weine um meine Eltern und um mich. Vor allem aber weine ich um all die Dinge, die Willem nicht mehr wird sagen können.
    Seine Sanftheit und all die Dinge, die er mit seinen Bildern auszudrücken versucht hat – verschwunden. Er hat die menschliche Seele gekannt, ihr Licht und all ihre Abgründe. Obwohl er um die Tragweite und den Ernst seiner geistigen Krankheit wusste, hat er gekämpft, hat um ihretwillen so vieles erlitten. Seine Hände haben geglättet, was rau und verwittert war, und doch hat niemand seine Liebe erwidert, ja, nicht ei n mal verstanden. Wird man jemals hören, was er zu sagen ve r sucht hat?
    Frédéric rührt sich nicht – nicht, als ich weine , und auch nicht, als mir seine Nähe bewusst wird, ich mich hastig von ihm löse und mir die Tränen von den Wangen wische. Ich sehe ihn nicht an, kann es einfach nicht, denn es zu tun, würde b e deuten, mir das Geschehene und den Schmerz einzugestehen, der damit einhergeht.
    »Ich weiß um die Bedeutungslosigkeit von Worten«, sagt Frédéric, »also werde ich nicht sagen, dass es mir leidtut.«
    »Was … was ist passiert?«
    Frédéric erklärt es mir , ohne zu zögern. »Er war schon tot, als ich heute Nachmittag in Saint-Paul-de-Mausole angeko m men bin. Sie haben mir erklärt, er habe es selbst getan, mit einem Revolverschuss in die linke Schläfe. Sie konnten mir nicht sagen, woher er ihn hatte. Wie es passieren konnte, ohne dass jemand etwas davon bemerkt hat.« Über Frédérics Augen legt sich ein Schleier, der ihr Feuer erstickt. »Sie haben gesagt, er habe kurz vor seinem Tod einen weiteren Anfall erlitten – schlimmer als alle anderen zuvor. Immer wieder hat er seinen geheimnisvollen Besucher erwähnt.«
    Ich reibe mir die Fingerknöchel. Es ist ein kläglicher Ve r such, etwas gegen die Kälte in meinem Inneren zu tun.
    Frédéric fährt sich durch die Haare, die dunkel und ung e ordnet in alle

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