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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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glühen, auf meiner Stirn prickelt der Schweiß.
    Frédéric schirmt mit der Hand die Sonne ab. »Wenn Sie möchten, spreche ich mit dem zuständigen Arzt. Monsieur Peyron, nicht wahr?«
    »Das würden Sie tun?«
    »Wenn es Ihrem Bruder hilft – und ich Ihnen damit einen Gefallen tue.«
    Frédérics veränderter Gesichtsausdruck entgeht mir nicht. Seine Augen spiegeln plötzlich nicht mehr nur Freundlichkeit, sondern auch etwas Dunkles wider, das über mich hereinbricht wie ein Gewitter an einem Sommertag. Es scheint, als würde er noch etwas sagen wollen , aber er tut es nicht, und ich wage nicht, nachzuhaken. Ich bin wie gelähmt vor Schreck und e t was a n derem, Unbekanntem, das zu beschreiben ich nicht in der L a ge bin. Zum ersten Mal, so scheint es, sehe ich ihn als den Mann, der er ist: groß und schlank, mit breiten Schultern und entschlossenem Blick – eine schmale Nase, dunkle Haare und hervorstechende Augenbrauen, dazu ein kaum wah r nehmbares Lächeln, das mich leise zu verspotten scheint. Als hätte er mir etwas von großer Bedeutung mitg e teilt, das zu verstehen ich zu dumm bin. Dieser Gedanke treibt mir erneut die Röte ins Gesicht, und ich denke daran, wie ich in seinen Augen aussehen muss, ein junges Mädchen ohne jeglichen E r fahrung s schatz, aus dem es schöpfen könnte.
    »Ich besuche Ihren Bruder heute Nachmittag und werde mit Peyron sprechen«, sagt er. »Machen Sie sich keine Sorgen – wenn Ihr Bruder in Saint-Rémy schlecht aufgehoben ist, finde ich es heraus und spreche mit Ihrem Vater.«
    Ich bedanke mich, doch Frédéric winkt nur ab. Gemei n sam machen wir uns auf den Rückweg in die Stadt, wo er mich bis vor die Haustür begleitet.
    »Passen Sie auf sich auf.«
    »Sie auch, Monsieur«, antworte ich mit einem Anflug von Ironie. Inwiefern sollte mir Gefahr drohen? Schließlich bin nicht ich es, die in eine Nervenheilanstalt gebracht worden ist   – nicht mich quälen Stimmen und Erscheinungen, die mich in ihren Käfig zu locken versuchen.
    Frédéric bemerkt meinen Stimmungswandel. Sein Lächeln ist fröhlich und gequält zugleich. »Auf Wiedersehen, Léonide.«
    Ich blicke ihm nach, beobachte, wie sich das Licht ve r ändert und er in einer Seitengasse verschwindet. Erst dann gehe ich ins Haus.
     
    Er kehrt zu mir zurück, als die Sonne den höchsten Punkt am Hor i zont erreicht hat, eine düstere Gestalt, deren Stimme Genie und Wah n sinn in sich vereint. Wieder wartet er an der Klostermauer und blickt zu meinem Fenster herauf. Ich weiß, nur ich kann ihn sehen – ihn, diesen Eremiten, von dem ich nicht weiß, ob ich ihm dankbar sein oder ihn ha s sen soll. Vielleicht bin ich ihm dankbar für den Schmerz, der mich jeden Tag daran erinnert, dass ich noch lebe, und für die Trauer, die mir die Kraft gibt, weiterzuarbeiten, obwohl ich weiß, dass meine Bilder nichts taugen. Doch der Hass in mir ist größer, er ist eine Flutwelle, er ist Dunkelheit und Feuer und zornrotes Licht.
    Ich weiß, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Seit Wochen ringe ich mit der Gewissheit, an der ich doch nichts ändern kann. Um den Schmerz zu vergessen, habe ich bis zur Erschöpfung gemalt, habe Leinwand um Leinwand mit Seegrün, Samtblau und Kupferrot gefüllt. Über üppigen Weizenfeldern und dunkel flammenden Zypressen dehnt sich ein bewöl k ter Himmel in Weiß, Pastellblau und Rosa. In tiefster Nacht eine Stadt vor einem dunkelblauen Himmel, Zypressen und Sterne in Bernsteinfa r ben. Und noch ein weiteres Bild: e in loderndes Kornfeld unter einem schwarzblauen Himmel, in dem Saatkrähen ihre Kreise ziehen.
    Ich werde, das spüre ich, kein weiteres Gemälde mehr malen. Das Ve r langen ist aus meinem Körper gewichen, und mir bleibt keine Zeit und nicht die Kraft, es zu tun. Ich lasse nichts zurück außer meinem Körper und den Bildern, die ich gemalt habe und an die sich in einigen Jahren niemand mehr erinnern wird. Ein vergeudetes Leben, das mehr als bloß die Natur und die Menschen auf einer Leinwand bewegen wollte, aber nicht konnte.
    »Ich brauche Leben«, summt die Stimme und verharrt in der stickigen Luft. »Du weißt es … du weißt, dass ich Körper, Seelen, Leben bra u che. Mehr, mehr von ihnen, bis die Welt unter der Last der Körper ze r bricht . «
    Die Worte sind ein Lied, ein Lockruf, dem ich folgen und mit dem ich untergehen muss. In der Ferne zirpen die Zikaden, die Luft ist erfüllt vom Knistern der Gräser in der brennenden Hitze.
    Unter mir tritt mein Besucher an die Klostermauer

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