Léonide (German Edition)
Himmel uns lohnt, wenn wir Gutes, und die Hölle uns straft, wenn wir Schlechtes getan haben? Glauben Sie, ein böser Mensch stirbt genauso wie ein guter?«
»Ich weiß es nicht – ich hoffe nicht. Allerdings glaube ich nicht an Gut und Böse, denn jeder Mensch trägt beides davon in sich.«
Willem schüttelt den Kopf. »Sie irren, wenn Sie glauben, es gebe keine bösen Menschen.« Er dreht sich um, als erwarte te er, beobachtet zu werden. »Es gibt sie, und ich muss es wi s sen.«
Wir wenden uns von dem Gemälde ab. Willem schaut sich noch immer um; seine Bewegungen sind fahrig, seine Augen verraten Angst.
Als wir aus der kühlen Kirche nach draußen treten, blendet uns weißes Licht. Die Sonne steht hoch am Himmel und wärmt das Pflaster, die Hausdächer, die lodernde Felsenlan d schaft.
Feuer, wie auf dem Bild von Luzifer und Michael.
Willem setzt sich seinen Strohhut auf und blinzelt in die Sonne. »Diese Hitze … Glauben Sie, sie kann einen Me n schen wahnsinnig machen?«
Verwirrt bemerke ich das fiebrige Glühen in seinen Augen. »Ich denke, das kommt ganz darauf an.«
»Auf was?«
»Darauf, ob der Mensch aus dem Norden oder dem Süden kommt.«
»Und was, wenn Ihnen die Sonne ein Vorbote der Angst w ä re? Des Bösen?«
»Ein Vorbote des Bösen? Wie meinst … ?«
»Die Sonne bringt Angst und Verwirrung – sie bringt das Böse. Sie glauben, Himmel und Hölle seien von Menschen erschaffen, aber das stimmt nicht, denn dann hätte der Mensch auch die Sonne erschaffen müssen.«
Wir gehen ein Stück, Kies und Sand knirschen unter unseren Füßen. Die Welt liegt still und matt, wie ausgetrocknet in der Mittagshitze.
»Merkwürdig«, sagt mein Bruder – ist er denn mein Br u der ? – und verharrt mit wehmütigem Blick. »Wenn ich Sie a n sehe, habe ich tatsächlich das Gefühl, wir würden uns ke n nen … Als kämen Sie von einem anderen Ort oder aus einer and e ren Zeit, an die ich mich nicht erinnern kann. Ich erinnere mich an Bilder, an Wirbel und Wogen und einen wehenden Himmel. An Sonnenblumengelb und Kornblumenblau … «
Wir treten an den Rand eines roten Felsens und blicken in die Tiefe. Unter uns erstreckt sich feuchtes Grün, dicht und dunkel wie ein Urwald.
»Die Zeit hat Roussillon vergessen«, murmelt Willem, bückt sich und lässt roten Sand durch seine Finger rieseln. Als er sich wieder erhebt, haben seine Hände einen merkwürdigen Ocke r ton angenommen.
Als ich erwache, spüre ich noch immer Kies und Sand unter meinen Füßen. Die Sonne prickelt auf d er Haut und den he l len Härchen auf meinen Unterarmen. Ich schmecke die Hi t ze und den Geruch von Pinien auf d er Zunge.
Ich schäle mich aus den Bettlaken und stehe auf. Als meine Füße den Boden berühren, durchzuckt mich seine Kälte. Zi t ternd ziehe ich einen Morgenmantel über mein Nachthemd, entzünde die Kerze auf d em Nachttisch und tappe zum Fen s ter.
Aus der Scheibe blickt mir mein eigenes Gesicht entgegen. Einen Herzschlag lang bin ich beinahe überrascht darüber, niemand anderen zu sehen. Meine Haut ist blass – blasser, als ich es von mir kenne. Das dunkelbraune Haar hängt mir in einem dicken Zopf über die Schulter.
Ich stelle die Kerze ab, öffne Fenster und Läden und blicke hinaus. Es fällt kein Licht in die Gasse. Ächzend pfeift der Wind die Hauswände entlang.
Die Beerdigung. Der Ockerton von Willems verfärbter Hand. Mein Traum von Roussillon. Lose Fäden, die sich zu einem Bild verknüpfen.
Ich muss nach Roussillon. Ich weiß, es gibt keinen anderen Ort, an dem ich mit meiner Suche beginnen kann. Ich werde abreisen, und ich werde der Ursache für Willems Tod und Costantinis Zutun auf die Spur kommen.
Mit der Kerze in der Hand setze ich mich an das kleine, ve r narbte Schreibpult, das im Zimmer steht, und hoffe inständig, Adélaïde nicht geweckt zu haben. Ich weiß, dass das, was ich zu tun gedenke, ihr nicht gefallen w ird . Sie will, dass ich mein Leben weiterlebe – mein Leben, nicht das meines Br u ders.
Doch mir bleibt keine andere Wahl, denn ich spüre, dass ich keine Ruhe finden werde, ohne das Rätsel, d a s Willem noch im Tod umgibt, gelöst zu haben. Also nehme ich ein Blatt Papier zur Hand, öffne das Tintenfässchen, das meine Tante mir b e reitgestellt hat, damit ich meinen Eltern schreiben kann, und greife nach dem Federhalter.
Frédéric ,
i ch habe eine Entdeckung gemacht, die Sie überraschen dürfte. Es geht um eine Spur, die nach Roussillon führt und der
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