Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
Vom Netzwerk:
meine Eltern und Frédéric verdrängend.
    »Möchtest du nicht einmal den Markt besuchen?«, fragt me i ne Tante mich eines Abends beim Essen. »Oder ein Café?«
    »Ich weiß nicht.«
    Es ist nicht das erste Mal, dass Adélaïde mich nachdenklich ansieht, nicht das erste Mal, dass ich mich vor ihrer Beobac h tungsgabe fürchte, die ich hinter ihren grünen Augen vermute. Ich weiß, noch ehe sie den Mund öffnet, dass das, was sie s a gen wird, nur zu meinem Besten ist – und mir ganz und gar nicht gefallen wird.
    »Du bist so oft allein, mein Kind. Ich mache mir Sorgen. Dein Vater hat mir einen Brief geschrieben; er hofft, dass es dir guttut, Arles eine Weile fernzubleiben und dich unter fremde Menschen zu mischen.«
    Ich versteife mich auf meinem Stuhl. »Er möchte, dass ich Willems Tod und alles, was geschehen ist, vergesse ? A ber das kann ich nicht.«
    Meine Tante legt ihren Löffel beiseite. »Léonide«, sagt sie sanft.
    »Ich kann ihn nicht vergessen«, flüstere ich und betrachte meinen Teller, um den Schmerz, der sich in meinem Gesicht spiegeln muss, vor Adélaïde zu verbergen. Meine Finger kra l len sich in die Serviette auf meinem Schoß. »Ich will ihn nicht vergessen. Wenn ich ihn vergesse – die Art, wie er den Pinsel gehalten und den Blick auf die Leinwand gerichtet hat, wie er die Augen schloss, wenn er überlegte, wie er sich fieberhaft an ein neues Gemälde machte, sobald er mit einem anderen fertig war –, ist alles vorbei. Ich kann nicht … ich kann das nicht.«
    Meine Tante steht auf, kommt um den Tisch herum zu mir herüber, streicht mir mit warmen Händen über die Haare, den Nacken, den Rücken.
    »Niemand verlangt, dass du ihn vergisst. Dein Vater am a l lerwenigsten. Wir müssen die Toten im Gedächtnis behalten – das ist unsere Pflicht, eine wichtige noch dazu. Aber wir dü r fen auch nicht vergessen, unser Leben weiterzuleben. Ich bin mir sicher, dein Bruder würde nicht wollen, dass du es um se i netwillen vergisst , aus Angst, ihn zu vergessen.«
    »Ich weiß … Es ist nur, ich habe solche Angst davor.«
    »Du wirst ihn nicht vergessen, Léonide. Ich muss es wissen – auch ich habe Menschen, die mir nah e waren, verloren. Wir vergessen die Toten nicht, aber wir lernen, mit ihren Geistern Seite an Seite zu leben. Auch das gehört zum Leben.«
    Und da, endlich, geschieht es. Ich weine. Nur weine ich diesmal nicht um den Schmerz meiner Eltern oder um me i nen, oder um die verlorenen Bilder, die Willem nun nicht mehr wird malen können – ich weine nur um meinen Bruder, um den Menschen, der er gewesen ist und um den, der er nun nicht mehr werden kann, um seinen Schmerz und darum, dass er nie wieder die südfranzösische Sonne sehen wird, die er so geliebt hat.
    Meine Tante bleibt bei mir, bis ich keine Tränen mehr habe, und sie ist auch später noch da . Sie ist da, als ich nach dra u ßen gehe, um die kühle Abendluft einzuatmen, ein Gesicht hinter dem Fenster; sie ist da, als ich die Stufen zu meiner Kammer hinaufsteige, eine Hand in meinem Rücken; sie ist da, als ich mich schlafen lege, zum ersten Mal seit Tagen nicht r u helos, sondern lediglich erschöpft.
     
    Der Markt ist noch überfüllter, als ich vermutet habe. Beaucaires ohnehin enge Gässchen sind mit Marktstä n den und Besuchern vollgestopft, an jeder Ecke bieten Verkä u fer ihre Waren feil. Es gibt Stände mit Gewürzen, die in allen erdenkl i chen Farben leuchten: gelb und rot, ocker und orange, grün, weiß und braun. Es gibt Seifen aus Olivenöl oder Eselsmilch, die nach Geißblatt, Lavendel und Maiglöckchen duften; es gibt Öle und Wurst, Baguette und ganze Sträuße von Knoblauch.
    Am ersten Stand, vor dem ich stehen bleibe , kaufe ich Käse aus Ziegen- und Kuhmilch. Der Verkäufer wickelt ihn sorgfä l tig in Papier ein, ehe ich bezahle. Am nächsten – dem eines Bäckers, der alles von einfachem Brot bis hin zu Petits Fours, Macarons und Éclairs feilbietet – kaufe ich zwei Baguettes.
    Ich sehe mich gerade an einem Obst- und Gemüsestand um und überlege, Tomaten, Knoblauch und frische Kräuter ei n zukaufen, als jemand dicht an mich herantritt. Ich blicke auf – blicke in ein Gesicht, das ich kenne, ein Gesicht, das ich nicht vergessen habe.
    Es wirkt vollkommen unverändert . W ettergegerbt, mit b u schigen Augenbrauen, vollen Lippen und üppigem Haar. Ihn hat der Tod meines Bruders unberührt gelassen, ja, er e r scheint mir im Gegenteil sogar kräftiger geworden zu sein, denn sein Körper hat

Weitere Kostenlose Bücher