Léonide (German Edition)
den Eindruck von Alter und Gebeug t heit verloren. Er steht aufrecht, ein Mann, der weder Mela n cholie noch Müdigkeit kennt, die Haut rosig, die Lippen rot, die Augen wach.
Costantini.
Natürlich. Dir hat Willems Tod keine schlaflosen Nächte b e reitet.
Als Costantini mich bemerkt, ist es ein gegenseitiges Erke n nen, das nicht lange währt, weil er sich von mir abwendet und davoneilt – flieht .
»Monsieur!« Ich eile ihm hinterher, missachte das G e dränge der anderen Marktbesucher, und versuche, mir einen Weg hi n durchzubahnen . Das G e wühl der Menschen – auf einmal ist es mir unerträglich und schnürt mir die Luft ab. Nur Meter von mir entfernt hebt sich Costantinis grauer Kopf von den anderen ab.
»Monsieur! Costantini, warten Sie!«
Von allen Seiten wirft man mir verwirrte, neugierige oder missbilligende Blicke zu. Ich ignoriere sie, dränge mich an ihnen vorbei. Costantini nähert sich dem Rand des Marktes. Als er ihn erreicht hat, beschleunigen sich seine Schritte. Er weiß, noch wird er beobachtet, von mir, von ihnen allen.
Ich kämpfe noch verzweifelter gegen das Gedränge an und habe dennoch das Gefühl, wie von Meereswellen in entgege n gesetzte Richtungen getragen zu werden, keinen Zentimeter voranzukommen, bis die Menschenmassen mich endlich au s spucken.
»Monsieur!« Jetzt renne ich. Dort, wo ich die Blicke der Marktbesucher spüre, brennt meine Haut, doch es ist mir gleich.
Costantini biegt in eine Gasse ein, mich auf den Fersen. Meine Füße schlagen in rasendem Takt und mein Herz klopft e i nen kräftigen, unbeirrbaren Rhythmus. Nun rennt auch er und hat die Distanz zwischen uns bereits wieder vergrößert.
Ich gebe es auf, nach ihm zu rufen, konzentriere mich stat t dessen auf meine Schritte und den Atem, der in meiner Brust brennt, nach Salz und Metall schmeckt. Costantinis Mantel flattert wie die Flügel einer Krähe. Ich stolpere über einen l o ckeren Pflasterstein, meine Einkäufe fallen mir aus den Hä n den. Costantini biegt in eine weitere Gasse ein, ich folge ihm Sekunden später.
Nur führt die Gasse nirgendwo hin. Eine Sackgasse, die durch eine hohe Mauer von der dahinter liegenden getrennt wird. Nun also ist es so weit . Ich werde ihn zur Rede stellen, und er wird nicht vor mir davonlaufen.
Da aber graben Costantinis Finger sich ins Mauerwerk, als bestünde es nicht aus Stein, sondern aus Wachs. Viel zu schnell erreicht er den Rand und schwingt sich hinüber, ohne sich noch einmal umzublicken. Ich bin zu spät, kann nicht einmal mehr nach seinem Mantel greifen. Es gelingt mir nicht, den Blick von der Mauer abzuwenden. Costantini hat keine Spuren darauf hinterlassen.
Was ist das für ein Mensch? Oder vielmehr: Was ist das für eine perfide Kreatur, die sich das Menschsein zur Maske macht? Die sich hier in Menschengestalt verbirgt?
Was soll ich tun? Was kann ich nur tun?
Ich wage nicht, auf den Markt zurückzukehren. Mit einem Mal fühle ich mich alt und müde. Langsam gehe ich durch die Sackgasse zurück, sammle meine Einkäufe auf und laufe durch die schattigen, schmutzigen Gässchen zurück zum Haus meiner Tante.
In der Nacht habe ich einen merkwürdigen Traum.
Ich befinde mich am Rand einer roten Felsenlandschaft, u m geben vom üppigen Grün der Zypressen. In der Ferne erke n ne ich ein Dorf, errichtet aus Stein in allen nur erdenklichen Schattierungen von Rosa und Ocker. Das Dorf steht am Ra n de einer kupfern leuchtenden Klippe, darüber ein Himmel von einem so tiefen Blau, dass es unmöglich real sein kann. Ich blicke auf die Weinberge im Umland und auf eine Landschaft, die in rotem Licht schwelt, als stünde sie in Flammen.
Meine Füße tragen mich wie von selbst die Anhöhe hinauf und ich bin erstaunt, dass ich nicht schwitze oder erschöpft bin, obwohl die Sonne unbarmherzig auf mich niederbrennt. Ich gehe weiter, vorbei an einem Ockersteinbruch und einer Farbenmühle, die matt in der Sonne liegt. Nach einer Weile erreiche ich den Ortskern mit der Kirche Saint-Michel und ihrem Glockenturm. Alles wirkt vertraut, es kommt mir vor, als wäre ich schon einmal hier gewesen – als hätte ich ganz genau gewusst, wohin ich mich wenden musste, während eine innere Stimme mich in Richtung Kirche getrieben hat.
Als ich die Kirche betrete, fällt mein Blick auf die Gestalt e i nes Mannes, der mit dem Rücken zu mir auf einer der lang gezogenen Bänke sitzt und betet. Ich kenne das rote Haar, die braun gebrannte Haut und die schmale, zerbrechlich wirkende
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